40 Jahre nach der Entführung und Ermordung Aldo Moros durch die Roten Brigaden in Italien sind Verschwörungstheorien über den Fall weiterhin verbreitet

Die unbequeme Geisel

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Falsche Geheimnisse

Gallinari ist nicht der einzige, der die Umstände und den Verlauf jener 55tä­gigen Entführung detailliert beschrieb und die politische Strategie der BR darlegte. Auch andere Mitglieder des Kommandos Via Fani, die inzwischen jahrzehntelange Haftstrafen abgesessen haben – etwa Valerio Morucci, Adriana Faranda, Barbara Balzerani und Raffaele Fiore –, äußerten sich in den vergangenen Jahren mehrfach zur Tat. Sie erklärten, rekonstruierten und lieferten politische Gründe, warum Überfall und Entführung aus ihrer Sicht so durchgeführt werden mussten.

Trotz fünf Prozessen, bei denen insgesamt mehr als 1 000 Jahre Haft verhängt wurden, drei parlamentarischen Untersuchungskommissionen, Bergen von Akten sowie unzähligen Büchern, Filmen und Fernsehdebatten gilt der Fall Moro noch immer als eines der größten italienischen Geheimnisse  – als wäre er nie aufgeklärt worden.

 

Weil Undurchsichtigkeit Verschwörungstheorien blühen lässt, gibt es nun Versionen für so ziemlich jedes Weltbild, je nachdem, welche politische Bedeutung man diesem Ereignis beimisst. So sollen sich in der Via Fani an jenem Morgen des 16. März 1978 wahlweise Agenten der italienischen Geheimdienste, der CIA, des KGB, des Mossad, Angehörige der paramilitärischen Geheimorganisation Gladio, der Freimaurerloge P2, der deutschen RAF und schließlich der organisierten Kriminalität Roms (Magliana-Bande) sowie der ´Ndrangheta befunden haben. Und natürlich, ganz nebenbei, die zehn Rotbrigadisten.

 

Besonders eine Frage taucht immer wieder auf: Haben die BR allein gehandelt? Dass die juristische und politische Aufarbeitung des Falls reichlich Anlass gibt, diese Frage zu stellen, kann hier nur angerissen werden; um fast jeden Aspekt des Falls  ranken sich mehr oder minder plausible Verschwörungstheorien.

Fest steht aber: Keine davon wurde bis heute bewiesen. Auch die dritte parlamentarische Untersuchungskommission, die 2015 ihre Arbeit aufnahm, konnte bis auf einige Details keine neuen Erkenntnisse bringen und bestätigt im Grunde die Version der ehe­maligen Rotbrigadisten.

Dass mehrere »alternative Wahrheiten« über den Fall Moro im Umlauf sind, liegt zweifellos an der noch nicht vollständig geklärten Dynamik, die sich während jener 55 Tagen in Rom entfaltete, und an den Lücken, Unklarheiten, verschwundenen oder gefälschten Akten, bewusster oder unbewusster Spurenverwischung, die den Fall kennzeichnen.

Weil Undurchsichtigkeit Verschwörungstheorien blühen lässt, gibt es nun Versionen für so ziemlich jedes Weltbild, je nachdem, welche politische Bedeutung man diesem Ereignis beimisst. So sollen sich in der Via Fani an jenem Morgen des 16. März 1978 wahlweise Agenten der italienischen Geheimdienste, der CIA, des KGB, des Mossad, Angehörige der paramilitärischen Geheimorganisation Gladio, der Freimaurerloge P2, der deutschen RAF und schließlich der organisierten Kriminalität Roms (Magliana-Bande) sowie der ´Ndrangheta befunden haben. Und natürlich, ganz nebenbei, die zehn Rotbrigadisten.

Exemplarisch zusammengefasst wurde dieses verschwörungstheoretische Konstrukt jüngst von Gerhard Feldbauer in der Tageszeitung Junge Welt (16. März 2018). Die »von Geheimdienstagenten unterwanderten und manipulierten linksradikalen Brigate Rosse«, so ­Feldbauer, seien als »Werkzeug« einer »Verschwörung der CIA und der geheimen Nato-Truppe ›Gladio‹« benutzt worden, »die das Regierungsbündnis mit den Kommunisten zu Fall bringen sollte«. Das Muster ist bekannt: Eine stramm antiimperialistische Interpretation jener Phase der italienischen Geschichte und des internationalen politischen Kontextes, die, wie so oft, nur eine Erklärung möglich macht, und zwar die simpelste: Die USA stecken ­dahinter.

Dabei wird bewusst ignoriert, was die Protagonisten dieser Zeit seit Jahren über ihre Taten sagen.

Aus dem damaligen Umfeld der Autonomia Operaia – von der man annehmen könnte, dass die Theorie, die BR seien von dunklen Mächten instrumentalisiert worden, ihr gelegen komme, denn sie entlastet die damaligen Genossen – stammen viele seriöse Untersuchungen, die sich vorgenommen haben, eine ernsthafte historische Aufarbeitung der sozialen und politischen Konflikte jener Zeit zu ermöglichen, um das Phänomen des bewaffneten Linksterrorismus und den Kontext seiner Entstehung zu begreifen.

Publizisten wie der Journalist Andrea Colombo (»Un affare di Stato. Il delitto Moro 40 anni dopo«, 2018), der ehemalige Rotbrigadist Paolo Persichetti auf seinem Blog »insorgenze« sowie der Verlag Derive Approdi haben mit ihrer Arbeit dazu beigetragen, die wilden, nur auf Aussagen und Indizien fußenden Geschichten über vermeintliche Drahtzieher auszuräumen. Die Autorinnen und Autoren des Buchs »Brigate Rosse« (Derive Approdi, 2017) hatten erstmals Zugang zu Akten, die die Sicherheitsapparate dem Staatsarchiv übermitteln mussten, nachdem 2014 das sie betreffende Staatsgeheimnis aufgehoben worden war.

Die Weigerung, zu glauben, dass eine zu allem entschlossene politisch-militärische Gruppe mit begrenzten Mitteln und kaum dafür ausgebildeten Leuten fähig zu einer Aktion dieses Ausmaßes war, ist trotzdem weiterhin verbreitet.

Denn eines steht fest: Beim Fall Aldo Moro und den Folgen seiner Entführung und Erschießung waren viele politische Interessen berührt. Zweifellos ging es von Anfang an nicht, oder nicht nur, um die Zukunft eines italienischen Spitzenpolitikers.