Demokratie braucht Einwanderung

Die Obergrenze der Demokratie

Seite 2

Dieser Mechanismus lässt sich lehrbuchartig am NSU-Komplex begreifen. Die Kölner Keupstraße war eines jener heruntergekommenen innerstädtischen Arbeiterquartiere, die ehemalige migrantische Fabrikarbeiter bezogen und denen sie, ebenso wie Berlin Kreuzberg, dem Hamburger Schanzenviertel oder dem Münchner Westend, ein neues Erscheinungsbild gaben, das diese bis heute prägt. In der Wirtschaftskrise Anfang der siebziger Jahre sollten die aus den Fabriken gefeuerten Gastarbeiter das Land bis zur nächsten Wirtschaftskonjunktur wieder verlassen. Doch die Leute blieben, holten ihre Familien, kämpften für Kindergeld, Schulbildung, anständiges Wohnen, Gesundheitsversorgung, kommunales Wahlrecht und ökonomische Selbständigkeit – kurz, erkämpften sich die Einwanderung in die sozialen Systeme, die sie zuvor mit erwirtschaftet hatten. Und diese Emanzipation aus dem Dispositiv der Entrechtung zeigte ­Wirkung.

Als der NSU im Juni 2004 mit einer Nagelbombe ein Massaker auf der Keupstraße anrichtete, ging es um einen Angriff auf diesen demokratischen Impuls, der sich aus der Kanakisierung der hiesigen Verhältnisse entwickelt ­hatte. Und trotz entrüsteter Ablehnung dieser Gewalt wurde dieser Angriff auf die Pluralisierung der Gesellschaft institutionell und medial fortgeführt. Die Verletzten und Geschädigten des NSU-Terrors sowie die Familien der Ermordeten, die in diesem Land ihre Geschäfte betrieben, Kinder großzogen, die teilweise deutsche Staatsbürgerschaft besaßen und sogar hier geboren waren, wurden wieder zu Fremden gemacht.

Sie wurden in den Medien als integrationsunwillige Parallelgesellschaften diffamiert, von der Polizei jahrelang als mutmaßliche Täter gequält, von der Politik als Störenfriede gedemütigt, von den Geheimdiensten bespitzelt und belogen und von der Mehrheitsgesellschaft gemieden. So  konnte der NSU sein Werk fortsetzen, die etablierte Einwanderungsgesellschaft zu destabilisieren und die postmigrantischen Bewohner dieses Landes erneut zu entrechten.

Der NSU-Komplex kann als ein Resultat der Wiedervereinigung verstanden werden. Die kapitalistische Abwicklung der ostdeutschen Infrastruktur wurde mit dem heraufbeschworenen Bild einer homogenen Nation kompensiert. Die diskursive Integration der neuen Bundesbürger wurde auf dem Rücken der Migrantinnen und Migranten ermöglicht. Die Toten von Mölln, Solingen und Lübeck waren Teil eines umfassenden Versuchs, die migrantische Bevölkerung zu entrechten, was sich nicht nur in der Änderung der Verfassung und der massiven Einschränkung des Grundrechts auf Asyl zeigte.

Die Antwort auf die soziale Frage liegt in der postmigrantischen Gesellschaft. Die Konjunktur der Einwan­derung im »Sommer der Migration« 2015, als eine Million Menschen sich ihren Weg in die deutschen Sozialsysteme erkämpften, brachte einen ge­waltigen Rückgewinn von demokratischen Qualitäten mit sich.

Die Refugees machten vor, was Demokratie bedeutet, und ermöglichten es Millionen von Alteingesessenen, es ihnen gleichzutun. Die unzähligen solidarischen Netzwerke in den Kommunen und Vierteln setzten den Kampf um angemessenes Wohnen, Lernen und Arbeiten für alle sichtbar auf die Tagesordnung und ließen den europäischen Traum eines transnationalen Raums wahr werden; sie haben dem Begriff der Demokratie wieder eine herrschaftskritische Bedeutung  verliehen.

Die Rechten haben das verstanden und versuchen ihr Prinzip der Hierarchisierung und Entrechtung mit aller Gewalt durchzusetzen. Das Feld, auf dem sie dies tun, ist die Migration, und so sprechen diese Populisten von morgens bis abends von nichts anderem.

Migration ist in der Tat das Feld, auf der sich die Frage der Inklusion aller Menschen vor dem Horizont des Gleichheitsversprechens beantworten wird. Hier zeigt sich, ob es eine Obergrenze für Demokratie geben wird oder ob die Verhältnisse der menschlichen Unterdrückung in der permanenten ­Ausweitung individueller wie kollektiver Rechte überwunden werden ­können.