Die britischen Konservativen und die Labour-Partei streiten über das künftige Verhältnis zur EU

Magisches Denken

Wie sollen die Beziehungen zur EU nach dem britischen Austritt aussehen? Darüber wird in Großbritannien bei den regierenden Konservativen, aber auch in der Labour-Partei gestritten. Die Austrittsverhandlungen kommen nur langsam voran.

Der Austritt aus der EU ist für die konservative Regierung in Großbritannien beschlossene Sache. Weniger klar ist, wie die Beziehungen zur EU danach aussehen sollen. Umstritten ist unter anderem das Zollwesen. Hier stehen sich zwei Fraktionen in der Partei gegenüber. Premierministerin Theresa May favorisiert ein Modell, bei dem Großbritannien EU-Zölle erhebt und an Brüssel weiterleitet, wenn Waren über Großbritannien an EU-Staaten geliefert werden. So kann May zufolge eine »weiche« Grenze beibehalten werden, Großbritannien ansonsten aber seine Handelsbeziehungen selbst regeln.

Konservative Kritiker dieses sogenannten hybriden Modells befürchten, dass Großbritannien damit zu nah an der EU bliebe und beispielsweise europäische Produktstandards und -richt­linien kopiert würden. Die EU wiederum hat den Vorschlag als »magisches Denken« abgetan, und auch die britische Industrie ist skeptisch. Befürchtet wird, dass ein solches System aufwendig zu verwalten und fehleranfällig sein könnte, da der Finanzfluss oft schwer nachvollziehbar sein und die Richtlinien unklar bleiben dürften.

Andere konservative Parlaments­abgeordnete bevorzugen als Lösung eine maximum facilitation, die auf neuer Technologie für automatische Einfuhrkontrollen basiert. Dieses Modell wird auch von der Industrie – mit Ausnahme der Autohersteller – favorisiert. Unklar ist, wie die Regierung die notwendigen technologischen Änderungen vornehmen könne und ob ein solches System funktionieren würde.

Da beide Seiten auf ihren jeweiligen Modellen beharren, hat May zwei Gruppen gebildet, damit bis zum EU-Gipfel im Juni ein Kompromiss gefunden werden kann. Die Unruhe in den eigenen Reihen kommt für May auch deswegen ungelegen, weil die Oppositionsparteien ihren Gesetzesvorschlag zum EU-Austritt nicht unterstützen. Das schottische Parlament wird in dieser Woche darüber abstimmen. Es wird erwartet, dass die Fraktionen der Scottish National Party (SNP), der Liberaldemokraten und der Grünen, die die Mehrheit stellen, das Gesetz ablehnen.

Der Opposition kommen die Streitigkeiten in der konservativen Partei sehr gelegen. Jeremy Corbyn, der Vorsitzende der Labour-Partei, kritisierte die Ineffizienz der Regierung bei den Ausstiegsverhandlungen. In einer Rede im Parlament bezeichnete er Mays Verhandlungspositionen als »heilloses Durcheinander«. Nicht zu Unrecht, doch ist die Position von Labour nicht konsistenter. Die Partei ist über die Gestaltung des Ausstiegs sowie über die Frage, ob über den fertigen Ausstiegsvertrag noch einmal im Parlament ­abgestimmt werden sollte, nicht weniger zerstritten als die Konservativen.

Bedeutendster Streitpunkt ist der Verbleib im europäischen Wirtschaftsraum (EWR), einer Freihandelszone aus den Staaten der EU und denen der Europäischen Freihandelsassoziation. Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital können innerhalb des EWR frei verkehren. Corbyn ist gegen einen Verbleib, die Lösung sei ein »neues Verhältnis zur EU, das auf einem neuen Verhältnis zum EU-Binnenmarkt beruht, welches die Vorteile beibehält«. Was genau darunter zu verstehen ist, erläuterte er nicht.

Überdies widersprechen ihm viele Mitglieder seiner Partei. Der Gewerkschaftsverband TUC bevorzugt die Mitgliedschaft im EWR, da so die EU-Standards beibehalten würden und ein enges Verhältnis zur EU bestehen bliebe. Auch die SDLP, die Schwesterpartei von Labour in Nordirland, appellierte an die Mitglieder der Labour-Fraktion, den Verbleib im EWR zu unterstützen. Dies würde zumindest eine »harte Grenze« zwischen Irland und Nordirland verhindern.

Die Meinungsverschiedenheiten in der Partei sind so tiefgreifend, dass am Dienstag vergangener Woche 83 Mitglieder der Labour-Fraktion im Oberhaus gegen ihre Parteiführung rebellierten. Sie stimmten für den Verbleib Großbritanniens im EWR, obwohl sie instruiert worden waren, sich zu enthalten. Einer der Labour-Peers im Oberhaus, der sich nicht enthalten hat, ist Lord Kinnock. Er war von 1983 bis 1992 Vorsitzender der Partei. Er warf Corbyn vor, es sei eine »ernste Pflichtverletzung«, wenn Labour die Gelegenheit nicht nutze, Großbritannien vor einem »harten« Ausstieg zu bewahren.

Am 21. Mai soll das Unterhaus über den Gesetzentwurf abstimmen. Auch nach der Rebellion im Oberhaus sieht Corbyn nicht die Notwendigkeit, die Parteilinie zu ändern. Seiner Ansicht nach steht der Verbleib im EWR einer linken Wirtschaftspolitik entgegen. Dazu gehört für Corbyn etwa die Unterstützung der britischen Industrie durch Regierungsaufträge.

Corbyn hält außerdem daran fest, dass es keine Abstimmung über den endgültigen Ausstiegsvertrag im Par­lament geben sollte – und stellt sich damit gegen einen großen Teil seiner Partei. Er stimmt mit May darin überein, dass sich das Land für den Ausstieg entschieden habe und die Sache damit erledigt sei. Mehr und mehr Mitglieder seiner Partei, vor allem die jüngeren, und ihre Vertreter im Parlament befürworten allerdings inzwischen eine ­Abstimmung. Die Vorsitzende der »Labour Students«, Melantha Chittenden, betonte beispielsweise, dass vor allem junge Menschen in Großbritannien von den Auswirkungen des Austritts betroffen wären; ihnen müsse daher die Möglichkeit gegeben werden, über die Austrittsbedingungen abzustimmen. Beim Referendum zum EU-Ausstieg hatten junge Britinnen und Briten mehrheitlich für einen Verbleib in der EU gestimmt. Corbyns vermeintlich linken politischen Idealen, etwa seiner Ablehnung der Globalisierung und seiner nationalstaatlich orientierten Wirtschaftspolitik, kommt der EU-Austritt allerdings entgegen.

Anders als May ist Corbyn in der bequemen Lage, nicht regieren zu müssen. Die Premierministerin hat nicht einmal ihre eigene Partei hinter sich. Zudem ist juristisch unklar, welche Rechte das schottische und das walisische Parlament in der Frage des EU-Austritts haben. Es macht die ohnehin schwierigen Verhandlungen mit der EU nicht einfacher, dass unsicher ist, ob ein mühselig ausgehandeltes Abkommen Bestand haben wird.