Das Solistenensemble Kaleidoskop

Es lebe die Musik!

Das Berliner Solistenensemble Kaleidoskop arbeitet sich an zwei Abenden an dem Essay über die Regression des Hörens von Theodor W. Adorno ab.

»Die einzigen Werke heute, die zählen, sind die, welche keine Werke mehr sind.« In aller Kürze erfasst dieser Satz aus Theodor W. Adornos »Philosophie der neuen Musik« das paradoxe Verhältnis von Kontinuität und Bruch, in dem die Neue Musik zu der ihr vorhergehenden Musiktradition steht. Heute, 70 Jahre später, klingt er heillos veraltet und hochaktuell zugleich.

Aktuell, weil es wohl kaum einen ernstzunehmenden zeitgenössischen Komponisten geben dürfte, der sich nicht schon auf die eine oder andere Weise von dem traditionellen Begriff des Werks mitsamt seinen kunstreligiösen Obertönen abgegrenzt hätte; veraltet, weil jene Werke, die da keine mehr sein sollen – die der Schönberg-Schule –, kaum noch etwas von jener Erschütterung vernehmen lassen, die doch einst von ihnen ausging.

»Werk« – in dem Satz Adornos hat dieses Wort zwei Momente, die mit der Neuen Musik erst wirklich beginnen auseinanderzutreten. Kein Werk mehr im Sinne des in sich ­ruhenden, vollendeten Ganzen ist etwa Schönbergs »Erwartung« (1909). Und doch noch ein Werk ist es im einfachen Sinne eines gemachten, selbständigen Objekts. Die letztere Qualität des Werks, eine bestimmte Form zu haben, scheint die erstere im Laufe der Geschichte immer wieder auf sich zu ziehen: So wird selbst das Stacheligste mit der Zeit zum Klassiker.

Die Regression des Hörens, der Fetischcharakter in der Musik – das Solistenensemble Kaleidoskop begreift sie nicht als zynisch zu registrierende oder narzisstisch abzuwehrende Tatsachen, sondern
als künstlerische Aufgaben.

Mit der wachsenden Fragwürdigkeit des Werkcharakters greift das Unbehagen an diesem auch auf die hergebrachte Konzertsituation über. Die jüngste Welle musikalischer »Entdinglichung« geht vielfach von den Interpreten aus. So konsequent wie kein anderes Ensemble widmet das Berliner Solistenensemble Kaleidoskop seine Tätigkeit diesem Problemzusammenhang, und das seit seiner Gründung im Jahr 2006. Als »frustrierte Zuhörerin« beschreibt sich Clara Gervais, die Komponistin und Kon­trabassistin des Streicheren­sembles. »Wo sind die wahren Musikerleb­nisse heute?«, fragt sie. Selbst der pro­fes­sionellen Musikerin geschehe es viel zu selten, dass die Musik, die sie doch liebt, ­sie wirklich einmal erreiche. Der Normalbetrieb von Platten- und Konzertindustrie schlage alles mit der Irrelevanz und dem Unernst gut ­geschmierter Routine.

»Unmöglichkeit I–IV« hieß die Konzertreihe, mit der das Ensemble sein zehnjähriges Bestehen feierte. Als Grundimpuls der Mitglieder bezeichnet Gervais die von ihnen geteilte künstlerische Empfindung: Es sei schlicht unmöglich, die Werke – der Tradition wie der Gegenwart gleichermaßen – einfach so aufzu­führen, wie die überkommene Form es diktiert. Das Ensemble stemmt sich gegen das, was Adorno den »Fetischcharakter in der Musik« nannte: dass anstelle der besonderen Qualitäten der Werke nur noch deren in gesellschaftliches Prestige umgesetzter ökonomischer Erfolg erfahren werde.

Unablässig experimentiert die Streicherformation darum mit Formaten, die die hergebrachte Konzertsituation aufbrechen und die Eigenqualität der Werke gegen das stärkt, was ihnen gesellschaftlich aufgebürdet wird. Die Programme umfassen dabei meist zugleich Werke der Tradition, der Moderne und der Gegenwart. Nach so geräuschfixierten Solokompositionen wie Marc Andrés »E« für Cello (2012) und Helmut Lachenmanns »Toccatina« für Violine (1986) beginnt Franz Schuberts »Streichquintett« (1828) nicht mehr mit C-Dur und D-Dur, sondern mit einem sich windenden Klangleib von Holz, Saiten und Bogenhaar. Die aufatmende Freiheit dann, mit der dieser sich in seinem liedhaften Es-Dur-Thema aussingt, lässt das heutige Ohr um den unwiderruflichen Verlust seiner Lieder trauern.

Um solch kritische Berührung zu ermöglichen, geht das Ensemble zuweilen so weit, in die formale Integ­rität der Werke einzugreifen. Das besagte Konzert aus der Reihe »Excuse my Dust: de terrae fine«, 2016 in Wien, wurde vom letzten Satz aus Schuberts Quintett eröffnet, die Stücke Andrés und Lachenmanns erklangen gleichzeitig und Georg Friedrich Haas’ Geigensolo »De Terrae Fine« von 2001 mündete ohne Pause in Schuberts ersten Satz, als sei es dessen Einleitung. Häufig sind die Musiker geschminkt und kostümiert, oft ist ein Konzert keine Abfolge von Aufführungen, sondern durchinszenierte Totalität. Die Gefahr solcher Art Entdinglichung liegt auf der Hand: Dem Ganzen der Werke, um derentwillen doch die Interpretation emanzipiert werden soll, droht die Herabsetzung zu bloßen Teilen einer übergreifenden Form.

Als subjektives Komplement des musikalischen Fetischismus diagnostizierte Adorno eine »Regression des Hörens«: die Begeisterung für Goldkehlchen und Meistergeigen, das atomistische Festhängen an sogenannten schönen Melodien und die Ignoranz gegenüber dem strukturellen Zusammenhang eines Werks.

Auf die Nachfrage, ob ein zer­splitternder Umgang mit den Werken dieser Regression nicht tendenziell entgegenkomme, reagiert Gervais mit entschiedener Ambivalenz. Über die verhängnisvolle Dialektik ihrer Bestrebungen ist sie sich bewusst. Gerade die Unwägbarkeit, mit der die Objektivität der Werke sich jeweils gegenüber einem Konzept Geltung verschaffe, mache für sie aber einen großen Teil des Reizes aus.