Argentinien liberalisiert das Abtreibungsrecht

Das Ende einer langen Nacht

Das argentinische Parlament hat ein Gesetz zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen beschlossen. Dem gingen viele Jahrzehnte feministischen Kampfes voraus.
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»Sexualerziehung, um sich entscheiden zu können. Verhütungsmittel, um nicht abtreiben zu müssen. Legale Abtreibung, um nicht zu sterben.« So lauteten seit 2003 die Forderungen und der Slogan der »Kampagne für ein Recht auf sichere, legale und kostenlose Abtreibung« in Argentinien, der viele Jahrzehnte feministischen Kampfes vorangegangen sind. Seit Donnerstag vergangener Woche ist das Bündnis der Verwirklichung seiner Forderungen ein gutes Stück näher gekommen.

Mit 129 Ja- und 125 Gegenstimmen hat das Abgeordnetenhaus ein Gesetzesvorhaben verabschiedet, das Schwangerschaftsabbrüche bis zur 14. Schwangerschaftswoche und in Einzelfällen auch darüber hinaus erlaubt. Dass das Ergebnis denkbar knapp ausfallen würde, hatten Umfragen bereits vermuten lassen. 23 Stunden lang debattierte das Parlament dann hoch­emotional. Am Ende gingen die Fronten quer durch alle Fraktionen, nur die Linke stimmte geschlossen für die Legalisierung.

Zehntausende vor allem junge Frauen verfolgten bei winterlichen Temperaturen die Live-Übertragung vor dem Kongressgebäude in Buenos Aires. Viele blieben die ganze Nacht. Als das Ergebnis gegen neun Uhr morgens Ortszeit feststand, wehte eine Welle aus grünen Halstüchern – dem Symbol für die Zustimmung zur Legalisierung – über den übermüdeten Menschenmassen. Grün geschminkte Frauen jubelten, küssten und umarmten sich. »Das war nicht der Mai 1968, das ist der Juni 2018. Die Nacht der pibas, der Mädchen aus den ärmeren Gesellschaftsschichten«, fasst die Kulturwissenschaftlerin Ana Longoni das Ereignis zusammen.

Denn gerade im Leben jener pibas werde sich die Gesetzesänderung bald bemerkbar machen. Zwar waren Abtreibungen unter bestimmten Umständen in Argentinien schon vorher nicht strafbar – im Falle einer Vergewaltigung oder wenn das Leben der schwan­geren Frau in Gefahr war. Doch bedurfte es dafür einer richterlichen Erlaubnis, andernfalls drohten bis zu vier Jahre Haft. Diese Rechts­lage zwang viele ungewollt Schwangere in die Illegalität. Wer die rund 1 000 US-Dollar nicht hatte, um in einer Privatklinik einen zwar teuren, doch vergleichsweise sicheren Abbruch vorzunehmen, versuchte es auf anderen Wegen – mit erfahrenen Personen, die dies kostenlos anboten, oder gefährlichen Methoden, die starke Blutungen auslösen können, so dass die Frauen schließlich doch im Krankenhaus behandelt werden mussten. 30 Frauen starben in Argentinien offiziellen Quellen zufolge allein im Jahr 2016 an den Folgen illegaler Abtreibungen. Die Dunkelziffer liegt weitaus höher.

Die pibas sind also die Gewinnerinnen der Abstimmung – und die argentinischen Feministinnen, die in einem von Machismo und katholischer Kirche geprägten Land nicht müde wurden, ihr Recht auf körperliche Selbstbestimmung immer wieder einzufordern. Nun liegt die Entscheidung beim Senat. Ihm gehört auch die ehemalige Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner an, unter deren Mitte-links-Regierung ähnliche Vorhaben mehrfach in der Schublade verschwanden. Die erklärte Abtreibungsgegnerin wird es sich gut überlegen, ob sie sich nun nicht eher den Forderungen ihrer ­feministischen Tochter und vieler ihrer Parteigenossinnen anschließt. Der rechtskonservative Präsident Mauricio Macri, der sich ebenfalls als »Verfechter des Lebens« bezeichnet, hat ein Veto gegen die Entscheidung bereits ausgeschlossen. Es wird erwartet, dass der ­Senat sich dem Votum des Abgeordnetenhauses anschließt.