Ist Russisch das neue Jiddisch?

Das Jiddisch von heute

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»Russisch ist das Jiddisch von heute, die Sprache der jüdischen Diaspora«, sagte der Historiker David Shneer, Inhaber des Louis-P.-Singer-Lehrstuhls für jüdische Geschichte und Professor für Geschichte und Reli­gion an der Universität von Colorado Boulder kürzlich in einem Interview mit der israelischen Tageszeitung Haaretz.

Lebten um das Jahr 1900 noch mehr als fünf Millionen Juden innerhalb der Grenzen des Russischen Reichs, so leben im Jahre 2018 viermal so viele russischsprachige Juden außerhalb der ehemaligen Sowjetunion. In den jüdischen Gemeinden in den USA und Kanada sind knapp ein Viertel der Menschen russischer Herkunft, in Israel sind es 18 Prozent und in Deutschland sogar fast 80 Prozent.

Die gemeinsame Sprache wird gepflegt, auch weil sie eine Möglichkeit ist, mit dem Judentum in Verbindung zu bleiben.

»Russische Juden wollen mit ihren Kindern Russisch sprechen, weil sie dadurch Beziehungen zum Herkunftsland vermitteln wollen. Es ist eine Sprache, die sie mit ihrem Judentum verbinden«, sagte Shneer über die russischen Juden.

Da die Fahrt vom JFK-Flughafen zu unserem Hotel in Manhattan eine knappe Stunde dauerte, konnten wir währenddessen mit dem Taxifahrer diskutieren. Der Mann kam bereits in den siebziger Jahren aus der heutigen Ukraine in die USA. Von Anfang an lebte er im New Yorker Stadtbezirk Brooklyn in der Gemeinde Brighton Beach, die wegen der Einwanderung vor allem von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion auch Little Odessa genannt wird.

»Uns verbindet die russische Sprache auch mit dem Judentum«, sagte der Fahrer, »besonders in Ländern wie in den USA, aber auch in Deutschland und in Israel, wo ebenfalls ein Teil meiner Familie lebt und wo wir Russen als nicht jüdisch genug angesehen werden.«

Die meisten, die in den siebziger oder achtziger Jahren kamen, sprachen kaum noch Jiddisch und waren durch den kommunistischen Einfluss kaum mehr religiös. Koscheres Essen war ihnen fremd, genau wie der Besuch einer Synagoge oder einer jüdischen Organisation.

»Dieser letzte Punkt ist wichtig«, fügte Swetlana während der unterhaltsamen Debatte im Taxi hinzu. Sie ist Dozentin für russisch-jüdische Geschichte und jiddische Kultur an der Universität von Tel Aviv. »Es spielt keine Rolle, in welchem Exil Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion ein neues Leben aufbauen mussten. Russischsprachige jüdische Gemeinden sehen kein Problem darin, jüdisch zu bleiben, ohne religiös zu sein. Für sie ist ihre Sprache der Schlüssel zur russisch-jüdischen Kultur«, sagt sie.

Swetlana kam zu Beginn der neunziger Jahre als Kind mit ihrer Familie nach Israel. Antisemitische Anfeindungen in ihrem Heimatort waren einer der Beweggründe zur Auswanderung der Eltern. »Trotz des Hasses, den wir als Juden dort oft verspürten, haben wir eine starke Verbindung zur Kultur unserer ehemaligen Heimat und deshalb ist es ganz normal für uns, diese auch an un­seren Nachkommen weiterzugeben«, erklärte sie.

Seit den siebziger Jahren haben russischsprachige Juden die ehemalige Sowjetunion in drei Wellen verlassen. Ihre Migration hat die soziale, kulturelle und politische Zusammensetzung vieler Länder beeinflusst, denn die Art und Weise, wie sie mit der Neuen Welt in Verbindung standen, wurde durch unterschiedliche politische und kulturelle Einflüsse geprägt.

»In der Sowjetunion wurden wir als Juden geächtet, hier werden wir als Russen angesehen«, erzählte der Taxifahrer mit enttäuschter Stimme, »wichtig aber ist nur, was man selbst im Herzen fühlt.«

Swetlana sagte, dass es noch zu früh sei, um den Einfluss der Juden aus der ehemaligen UdSSR auf die amerikanische Kultur mit dem jiddischsprachiger Einwanderer vor über 100 Jahren zu vergleichen. »Dies liegt vor allem daran, dass der Kontext in den Gesellschaften, aus denen sie ausschieden und zu denen sie kamen, zu unterschiedlich ist«, meinte sie.

»Jiddisch hatte einen großen Einfluss auf die amerikanische Kultur, weil es im Fernsehen, in der Literatur und im Film vertreten war.«

Mit der Zeit könnte Russisch durchaus den Weg des Jiddischen gehen. Doch als wir nach langer Fahrt endlich das Hotel erreichten und aus dem Taxi stiegen, verabschiedete uns der Fahrer mit dem Satz: »Do swida­nija (russisch: auf Wiedersehen), seids mir alle gesund.«

Mit einem Lächeln sagte ich zu meinen Leuten: »Na bitte, ein bisschen Jiddisch ist auch in seinem Russisch noch drin.«

 

* Namen von der Redaktion geändert.