Kevin Kühnert, Juso-Vorsitzender, im Gespräch über linke Politik mit der SPD

»Mit der SPD gibt es keine Garantie für progressive Mehrheiten«

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Interview Von

Der starke Staat beinhaltet aber auch starke Grenzen. Auch Andrea Nahles und Karl Lauterbach verfechten diese. Ist das emanzipatorisch?
Hier ist es dasselbe Muster. Es gibt Stimmen in der Gesellschaft, die genau das fordern: Grenzen zu, keinen mehr reinlassen. Die denken, damit seien ihre Probleme gelöst. Ich erwarte auch da eine differenziertere Herangehensweise und dass man den Menschen erklärt, was passiert. Wir können ja morgen die Grenzen schließen und alle rausschmeißen, die keinen Aufenthaltstitel haben. Aber davon wird der Hartz-IV-Satz auch nicht höher, die Schulen und die Infrastruktur im ländlichen Raum werden nicht besser. Genau deshalb möchte ich eine Linke, die dem widerspricht und auch den Nutzen und die Notwendigkeit von Zuwanderung erklärt und das Grundrecht auf Asyl leidenschaftlich verteidigt.

Wagenknecht vertritt die These, dass es durch Zuwanderung zu einer Konkurrenzsituation im Niedriglohnbereich komme. Hat Zuwanderung auch soziale Nachteile?
Viele Menschen haben die Wahrnehmung, dass es über Jahre hinweg zu Ungerechtigkeiten im Zuge der Zuwanderung gekommen sei. Vergessen wird dabei, dass seit 20 Jahren gesagt wird, der Staat solle sich bei der Finanzierung des Gemeinwesens besser zurückhalten. In den Augen vieler Menschen steht das im Widerspruch zu den Summen, die aufgewendet wurden, um Unterkünfte, Verpflegung und Bildung für Geflüchtete zur Verfügung zu stellen. Den Widerspruch löst man aber nicht auf, indem man gegen Migration wettert, sondern nur, indem man kritisiert, dass an öffentlicher Infrastruktur gespart wurde, dass der Arbeitsmarkt dereguliert und Privatisierungen betrieben wurden. Die Anwesenheit von ein oder zwei Millionen Geflüchteten ist nicht der Grund für Probleme, die schon vorher da waren. Natürlich steigt die Akzeptanz für Geflüchtete, wenn die Menschen merken, dass für ihre Belange gesorgt ist. Für viele ist das die Voraussetzung für Solidarität.

Was ist das aktuelle Angebot der Sozialdemokratie?
Das Kerngeschäft der Sozialdemokratie war immer, Solidarität zwischen verschiedenen Gruppen herzustellen, die vielleicht unterschiedliche Interessen haben. Die SPD stand ja nie an der Spitze der Antiatombewegung und die ­Sozialdemokraten waren auch nicht die ersten, die die Ehe für alle gefordert haben. Aber ohne uns wären die großen Schritte in diesen Bereichen am Ende nicht möglich gewesen, weil wir ganze Milieus damit solidarisiert haben.

Selbst mit der SPD war dies aber lange nicht möglich.
Die parlamentarische Mehrheit wäre ohne die SPD nicht möglich gewesen. Das ist die Krux mit der SPD, es gibt keine Garantie für progressive Mehrheiten mit ihr, aber es gibt eine Garantie dafür, dass es keine progressiven Mehrheiten ohne sie gibt. Deswegen halte ich es auch für richtig, weiter für und in dieser Partei zu kämpfen. Es ist ein Irrglaube, dass man diese Partei abwickeln muss und dann entsteht etwas Neues und Hippes.

Sollte man also eher das Bestehende verteidigen?
Nicht als Selbstzweck. Niemand wird aus Gnade oder historischer Rührseligkeit noch die SPD wählen. Außer vielleicht unsere Mitglieder. Aber die Strukturen, die wir haben, sind arbeits­fähig. Damit Rot-Rot-Grün miteinander ins Gespräch kommen, müssen auch die Vorstände der Parteien aktiv werden.