Helena Maleno Garzón, Migrationsforscherin, im Gespräch über die Kriminalisierung von Fluchthilfe und Migration von Nordafrika über Spanien in die EU

»Es geht darum, das Recht auf Leben zu wahren«

Helena Maleno Garzón ist Flüchtlingshelferin für die ­Organisationen Caminando Fronteras/Walking Borders und Women’s Link Worldwide, Migrationsforscherin, Journalistin und Menschenrechtlerin. Sie lebt und arbeitet in Tanger, Nordmarokko. Im November 2017 wurde sie in Marokko vor Gericht geladen, unter anderem, weil sie Seenotrufe von Flüchtlingsbooten an die Küstenwache Spaniens und die Marine Marokkos weiterleitete. Angeklagt ist sie ­wegen »Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation«, »Schlepperei« und »Menschenhandels«. Ihr droht eine lebenslange Haftstrafe.
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Wie geht es Ihnen in Erwartung ­Ihres Verfahrens unter anderem wegen »Menschenhandels«?
Die Ungewissheit ist hart. Ich weiß nicht, wann die Entscheidung fällt, das mündliche Verfahren zu eröffnen. Oder ob man mich in Untersuchungshaft nimmt, was in Anbetracht der Schwere der Vorwürfe gegen mich denkbar ist. Wobei es in Marokko keine Fristen gibt und es lange dauern kann, bis mir der Bescheid mitgeteilt wird. Derweil bemühe ich mich, die Tage in Freiheit möglichst gelassen zu leben und optimistisch zu bleiben. Ich fühle mich seit November 2017, als mich die erste Vorladung erreichte, die mir zwei marokkanische Polizisten zustellten, wie unter dem Damoklesschwert, das jeden Augenblick fallen kann.

Wie kam die Anklage zustande?
Das war ein Punkt, der meine Nervosität immens steigerte. Eine parlamentarische Anfrage von Podemos und der Vereinigten Linken (IU) in Spanien dazu, ob spanische Polizeiakten zu meiner Person an Marokkos Behörden überreicht wurden, beantwortete der damalige Innenminister Juan Ignacio Zoido am 10. April negativ. Mein Fall ist politisch und die Verfolgung geht vom EU-Mitglied Spanien aus, da das Verfahren in Marokko auf Anschuldigungen aus Spanien zurückgeht. Selbst die Vereinten Nationen haben sich eingeschaltet und nachgefragt, wie es dazu komme, dass gegen mich, eine von den UN anerkannte Menschenrechtlerin, ein Verfahren anläuft. Die spanische Polizei will mich in Haft ­sehen.

Wie kommen Sie zu dieser An­nahme?
Im Sommer 2017 kam es zu einer Massengrenzüberschreitung in der spanischen Exklave Ceuta, bei der ein Polizist verletzt wurde. Doch wie ein Video, das auch von mir weiterverbreitet wurde, deutlich zeigt, zog der Beamte sich die Verletzung zu, als er wie wild geworden auf Migranten einschlug und eintrat. Ich hatte das Vorgehen der ­Polizei öffentlich kritisiert. Daraufhin gipfelte eine Kampagne gegen mich in den sozialen Netzwerken, primär auf Twitter, in Morddrohungen. Ich erhielt Fotos von Pistolen und Kugeln mit den Worten »Diese Patrone ist für dich reserviert«. In diese Drohkampagne schaltete sich auch die Polizeigewerkschaft ein. Jedoch nicht, um mich zu verteidigen, sondern um mich und meine Arbeit als Flüchtlingshelferin zu diskreditieren. Was zur Folge hatte, dass die Hass-Tweets weiter angefacht wurden, da sich deren Urheber von der Polizei bestätigt und gar gedeckt fühlten.

Wie lautet die Anklage gegen Sie genau?
Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation, Schlepperei und Menschenhandel. Wie ich in Erfahrung bringen konnte, sammelte die spanische Polizei bereits seit 2012 in einer Akte Daten zu meiner Person und Tätigkeit. Seit damals gibt es Aufzeichnungen über meine Reisen, aber auch Telefonmitschnitte. Meine Grundrechte wurden dadurch verletzt. Spaniens Polizei zeigte mich in Marokko damals an, unter dem Vorwurf, es gebe eine spanische Schlepperin, die auf marokkanischem Boden agiere, und bat um polizeiliche Kooperation. Marokkos Polizei überwachte mich fortan - bis 2014, als sie zu dem Schluss kam, dass ich keine Delikte verübte. Sie forderte von Spaniens Polizei Beweise über Rechtsbrüche meinerseits ein. Meine Kriminalakte wurde 2015 über die spanische Botschaft in Rabat angefordert. Von diesem Punkt an wissen wir, ich und meine Anwälte, nicht, wie es weitergegangen ist. Auf irgendeinem Weg müssen die Akten nach Marokko gelangt sein.

»Da die Routen von Menschen, Drogen und Waffen sich überschneiden, steigt die Gefahr für die Migranten und allen voran für die Migrantinnen.«

Ist das Verfahren gegen Sie Teil der Strategie der Kriminalisierung von Flüchtlingshelfern?
Das vor kurzem ad acta gelegte Verfahren gegen die Feuerwehrleute aus Andalusien, die auf Lesbos als Flüchtlingshelfer vor Gericht standen, gibt mir Hoffnung. Auch die Solidarität mit der Arbeit der Seenotretter der NGO Proactiva Open Arms zeigt, dass es Widerstand gibt gegen das, was die EU-Staaten mit unseren Fällen erreichen wollen: Exempel zu statuieren und Flüchtlingshelfern Angst zu machen. Aber dieser Schuss geht nach hinten los, wie die Welle der Solidarität auch in meinem Fall zeigt. Es kommt zu einem Umdenken in Sachen Migration. Was Länder wie Spanien als erfolgreiches Modell der Grenzsicherung exportieren wollen, wird nicht mehr ungefragt hingenommen. Denn der Grenzschutz soll dabei über allem stehen, über grundlegenden Menschenrechten. Todesfälle werden dann einfach hingenommen. Das geht einher mit einer Entmenschlichung von Migranten. Über 20 Jahre leben wir bereits damit. Dabei geht es darum, das Recht auf ­Leben zu wahren, und dieses über den Grenzschutz als oberste Priorität zu stellen.

Wie geht man mit dem Thema Migration in Marokko um?
Marokko befindet sich in einem Dilemma. Auf der einen Seite bekommt es als »Torhüter vor Europa« Geld, um dafür zu sorgen, dass keine Migranten durchkommen. Auf der anderen Seite ist es selbst ein Emigrationsland, viele junge Marokkaner wollen einfach nur auswandern und stellen mit den Algeriern eine der größten Migrantengruppen dar. Zugleich wird in Marokko selbst an einer Integrationspolitik für Einwanderer aus den Subsahara-Staaten gearbeitet, die erste Früchte trägt, geknüpft an eine Legalisierung des Aufenthaltsstatus Tausender, forciert durch das Königshaus. Doch NGOs übernehmen einen beachtlichen Teil der Integrationsarbeit, während man ein europäisches Modell der Grenzschutz-, Integrations-, und einer kriminalisierenden Ausländerpolitik implementieren will.

Marokko muss einen sehr komplizierten Spagat vollziehen. Dass Migranten einfach zurück nach Mauretanien gekarrt und ihrem Schicksal überlassen werden, ist nicht mehr Usus. Vielmehr ist es Marokko, das auf direkte Order des Königs Mohammed VI. ­Hilfe schickt, wenn Berichte von Massenzwangsaussetzungen aus Algerien in die Sahara nach Niger bekannt werden. Algerien verhält sich hier am grausamsten und hört auch nicht auf, Massen an Migranten einfach in der Wüste auszusetzen, was einem Todesurteil gleichkommt.

Anfang Juni versuchten erneut 400 Migranten, kollektiv den Grenzzaun zur spanischen Exklave Ceuta zu überwinden, mindestens sechs Menschen wurden dabei verletzt. Wie ist die Situation derzeit an den Grenzen in Ceuta und Melilla und in der Straße von Gibraltar?
Solche medienwirksamen Massenanstürme auf die Grenzzäune sind selten geworden. Der Hauptweg ist der über die Straße von Gibraltar. Zahlreiche Flüchtlingsboote starten tagtäglich. Aber auch im Alborán-Meer Richtung der Küste von Málaga und Granada gibt es Flüchtlingsboote. Jüngst ertranken sieben Frauen und Kinder, als ein Boot rechtswidrig aus Ceuta direkt nach Marokko zurückgeschickt wurde.

Der neue spanische Innenminister Fernando Grande-Marlaska kündigte an, der Nato-Draht an den Grenzzäunen der Exklaven werde entfernt. Was erwarten Sie von der neuen Regierung unter Minister­präsident Pedro Sánchez von der sozialistischen Partei PSOE?
Für die rechte Vorgängerregierung von Mariano Rajoy (PP) kamen die Menschenrechte von Flüchtlingen an letzter Stelle. Ich hoffe, dass die neue ­Regierung nicht dieselben Fehler begeht, die andere sozialistische Regierungen bereits gemacht haben, wenn es um den Schutz der Menschenrechte an den Außengrenzen geht. Es waren José Luis Rodríguez Zapatero und Alfredo Pérez Rubalcaba vom PSOE, die den Schwerpunkt beim Grenzschutzes auf die Externalisierung gelegt haben, das heißt, auf die Drittstaaten und Ursprungsländer sowie die rigorose Schließung der Außengrenze. Ein Modell, das heute von ganz Europa kopiert wird.

Wir hoffen aber, dass nun viele Dinge umgesetzt werden, angefangen bei der Entfernung des Nato-Drahts, und auf ein Ende der direkten Zurückweisungen; und hoffen auch, dass Spanien Anstrengungen bei der Aufnahme von Migranten unternimmt. Nicht nur zahlenmäßig, sondern in der Art und Weise, wie sie empfangen werden. Derzeit sind Auffanglager restlos überfüllt, man lässt Ankommende einfach auf der Straße stehen. Insbesondere in Ceuta und Melilla werden deren Menschenrechte kaum geachtet,  viele Migrantenkinder können dort etwa nicht zur Schule gehen.

Welche Beziehung gibt es zwischen Flüchtlingsrouten und dem Haschisch- beziehungsweise dem wachsenden Kokainhandel aus West­afrika via Marokko?
Unsere größte Sorge ist die Sicherheit der Migranten. Da die Routen von Menschen, Drogen und Waffen sich überschneiden, steigt die Gefahr für die Migranten – und allen voran die Migrantinnen – auf ihrem Weg, wenn Drogen, wie zuletzt große Mengen Kokain, nicht mehr auf dem üblichen Weg nach Europa geschmuggelt werden, also über Nordspanien und Rotterdam, sondern über Westafrika und den Senegal via Marokko. Die Migration stoppt man aber nicht, indem man Routen schließt, dadurch zwingt man die Menschen nur dazu, noch ge­fährlichere Routen zu wählen. Die Sahel-Route ist für Frauen die Hölle, ­Vergewaltigungen durch Drogen- und Waffenschmuggler, aber auch Soldaten sind die Regel. Dass das Kokain nun auch über diesen Weg nach Europa kommt, macht insbesondere Frauen nur zu einer Ware mehr, die es zu bewegen gilt. Und wie man auch in Libyen sieht, verstärken sich die kriminellen Aktivitäten gegenseitig: Sklaverei, Drogen, Waffen, Zwangsprostitution.