Präsident al-Sisi regiert seit fünf Jahren in Ägypten

Keine Besserung in Sicht

Seit dem Sturz von Mohammed Mursi vor fünf Jahren ist Ägypten unter Präsident al-Sisi erneut ein autoritärer Staat.

Die Herrschaft des Generals Abd al-Fattah al-Sisi begann vor fünf Jahren, und sie begann mit einem Massaker. Am 3. Juli 2013 verhaftete das ägyptische Militär den gewählten Präsidenten Mohammed Mursi und übernahm die Macht. Was in den Wochen vor und nach dem Putsch geschah, sagt viel über den Zustand aus, in dem sich das Land heutzutage befindet.

Am 30. Juni jenes Jahres war Mursi ein Jahr im Amt. Er war der erste frei gewählte Präsident des Landes und der erste, der nicht aus dem Militärapparat stammte. Die Revolution 2011 hatte ihn, den Vertreter der islamistischen Muslimbruderschaft, an die Macht ­gespült, und doch war er für viele, die ihn gewählt hatten, nur eine Notlösung, die bessere von zwei verhassten Optionen. Die jungen Protestierenden, die den Aufstand im Januar 2011 getragen hatten, waren gegen frühe Wahlen gewesen. Aber der Militärrat, der nach dem Sturz des langjährigen Diktators Hosni Mubarak übergangsweise die Macht innehatte, war bereits im Sommer 2011 ein inoffizielles, aber offensichtliches Bündnis mit der Muslimbruderschaft eingegangen, seit Jahrzehnten die größte und am besten ­organisierte oppositionelle Gruppe im Land. Neben der alten Garde Mubaraks war sie die einzige Kraft, die über die Ressourcen verfügte, um mit wenigen Monaten Vorbereitungszeit einen Wahlkampf zu stemmen. Die Protestbewegungen konnten sich nicht auf eine Strategie einigen. Von den beiden Kandidaten, die ihnen mehr oder weniger nahe standen, wollte keiner zugunsten des anderen verzichten. Die Stimmen der progressiven Wählerinnen und Wähler verteilten sich auf beide. In die Stichwahl im Juni 2012 kamen Ahmed Shafiq, ein Minister Mubaraks – und Mursi, den viele zähneknirschend wählten, um zu verhindern, dass das gerade gestürzte Regime zurück an die Macht kam.

Mursis Präsidentschaft stand von Beginn an unter keinem guten Stern. Die Wirtschaft lag am Boden und er hatte keine Idee, wie man sie wiederbeleben könnte. Im Inland wie im Ausland fehlten ihm die Verbündeten, der größte Teil der Bevölkerung betrachtete die Muslimbrüder weiterhin als Terroristen und beobachtete misstrauisch Mursis Versuche, das Land zur Ruhe zu bringen. Die sozialen Bewegungen waren noch aktiv, die Bevölkerung politisiert, beim kleinsten Anlass gingen die Protestierenden – pro oder contra Mursi – wieder auf die Straße und lieferten sich erbitterte Schlachten. Versuche Mursis, die eigene Macht durch Gesetzesänderungen zu zementieren, heizten die Situation weiter an.

Als sich der Jahrestag von Mursis Amtsantritt näherte, tauchte eine neue Bewegung auf: Tamarod, Rebellion. Sie sammelte Millionen von Stimmen für vorgezogene Wahlen. Am 30. Juni gingen Hunderttausende, vielleicht mehr als eine Million Menschen auf die Straßen, um Mursis Rücktritt zu fordern. Polizei und Mili­täreinheiten hatten in den Jahren und Monaten ­zuvor jede Demonstration brutal angegriffen – dieses Mal schützten und unterstützten sie die Proteste. »Armee und Volk, Hand in Hand!« skandierten die Demonstrierenden. Viele trugen Plakate, die den damaligen Verteidigungsminister al-Sisi und die Armee aufriefen, einzugreifen.

Al-Sisi kam dem Wunsch nach und stellte Mursi ein Ultimatum: Er sollte binnen 48 Stunden zurücktreten. Die anschließenden Verhandlungen scheiterten. Am 3. Juli übernahm das Militär unter Führung al-Sisis die Macht, setzte die Verfassung außer Kraft und Mursi an einem unbekannten Ort fest. Der Putsch – zu diesem Zeitpunkt als »Zweite Revolution« gerühmt – fand quer durch die Gesellschaft Unterstützung: vom Patriarchen und den Bischöfen der koptischen Kirche über die Scheichs der islamischen al-Azhar-Universität und die salafistische Nur-Partei bis hin zu Teilen der jugendlichen Protestbewegungen und den liberalen Parteien.

Die Wirtschaftskrise dauert an, Waren haben sich über die letzten Jahre extrem verteuert, ein Drittel der Ägypter lebt unter der Armutsgrenze.

Die Reihen der Unterstützer bröckelten, als sich abzuzeichnen begann, dass das Militär keineswegs vorhatte, bald Neuwahlen auszurufen, um eine zivile Regierung zu ermöglichen, die die Forderungen der Revolution erfüllen konnte. Doch es dauerte mehrere Wochen, bis den Unterstützern und Beobachtern klar wurde, woran sie tatsächlich mitgewirkt hatten: an einem Militärputsch, der die alte Führungsschicht wieder an die Macht hob und jegliche Opposition auszuschalten drohte – wenn nötig mit roher Gewalt.
In der Übergangsregierung, die ­al-Sisi einberief, waren Technokraten und Geschäftsleute vertreten, einige von ihnen hatten bereits zu Zeiten Mubaraks enge Beziehungen in die Politik. Al-Sisi selbst blieb zunächst Verteidigungsminister, wurde aber zugleich stellvertretender Ministerpräsident und erhielt zusätzliche Befugnisse. Für den 26. Juli rief er seine Anhänger dazu auf, mit einer Großdemonstration zu bestätigen, dass er »freie Hand« bei der Bekämpfung des Terrorismus habe. Die ersten Teile der Bewegung distanzierten sich, Menschenrechtsgruppen verurteilten den Aufruf. Die Anhänger Mursis, vom Putsch überrascht, hatten eigene große Protestcamps errichtet, auf dem Platz vor der Rabaa-al-Adawiya-Moschee im Osten Kairos und in Gizeh im Westen. Sie forderten weiterhin die Rückkehr des gewählten Präsidenten. Ab Anfang August kam es mehrfach zu Zusammenstößen mit der Polizei, Dutzende Muslimbrüder wurden erschossen – auch die salafistische Nur-Partei zog sich nun aus der Koalition um al-Sisi zurück.

Am 14. August schlossen Sicherheitskräfte im Morgengrauen die Camps der Muslimbrüder und stürmten sie mit Scharfschützen und gepanzerten Fahrzeugen. Bis zum Mittag ging die Zahl der Toten in die Hunderte.

 

Im August 2014 veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch einen Bericht über die Vorfälle, für den sie ein Jahr lang recherchiert hatte. Sie zählte allein auf dem Rabaa-Platz mindestens 817 Tote, darunter Frauen und Kinder, vermutete aber, dass die Zahl über 1 000 liege. Die Studie spricht von einem der schlimmsten Massaker, die an Demonstrierenden weltweit verübt wurden, und vergleicht es mit dem auf dem Tiananmen-Platz in China 1989. Die beiden Autoren wurden verhaftet und aus Ägypten ausgewiesen, bevor sie den Bericht vorstellen konnten.

Das Massaker von Rabaa markierte einen Bruch – das Ende der postrevolutionären Phase und den Beginn einer neuen Militärdiktatur, die bis heute andauert.

In einem Interview mit dem britischen Guardian vom 25. Januar 2016 sagte der Filmemacher und Autor Omar Robert Hamilton: »Das Spektakel des Tahrir-Platzes wurde begraben unter einem Spektakel des Todes, und wir blieben mit einer einzigen Frage zurück: Wie kann man denen die Macht entreißen, die bereit sind, 1 000 Menschen an einem einzigen Tag zu töten? Mit Gewalt? Und was würde diese Gewalt, die für uns unmöglich war, uns kosten?«

Die Muslimbruderschaft reagierte auf das Massaker von Rabaa, wie es zu erwarten war: Es kam zu Aufständen im Land, Kirchen brannten, mindestens vier Menschen starben. Al-Sisi rief den Ausnahmezustand aus, erließ eine nächtliche Ausgangssperre und befahl den Einsatz scharfer Munition gegen Demonstrierende, wachsame Bürger sollten jedes verdächtige Verhalten den Ordnungskräften melden. In den folgenden Monaten wurden die unabhängigen Medien zerschlagen, Journalisten und Bloggerinnen verhaftet, Demonstrationen mit einem neuen Gesetz verboten. Menschenrechts­organisationen zufolge sind gegenwärtig bis zu 50 000 politische Gefangene inhaftiert, Folter, willkürliche Verhaftungen und das »Verschwindenlassen« von Menschen sind an der Tagesordnung.

Al-Sisi wurde wie erwartet im Frühjahr 2014 zum Präsidenten gewählt, vor wenigen Wochen wurde er mit über 90 Prozent Zustimmung im Amt bestätigt. Wie hoch diese tatsächlich ist, lässt sich nur erahnen. Die Zeiten, in denen er auf Gebäck und Unterwäsche prangte und Frauen, wenn sie ihn trafen, in Ohnmacht fielen, sind längst vorbei. Die Wirtschaftskrise dauert an, Waren haben sich in den vergangenen Jahre extrem verteuert, ein Drittel der Ägypter lebt unter der Armutsgrenze, während al-Sisi absurde Großprojekte aus der Wüste zu stampfen versucht und sich über kilometerlange rote Teppiche führen lässt. Teile der Bevölkerung dürften dennoch weiterhin hinter ihm stehen. Angesichts der Bürgerkriege in Syrien, Jemen und Libyen sehen sie in ihm und der Armee die Garanten für Stabilität und relative Sicherheit. Ein anderer Teil schweigt aus Angst. Von den jungen Protestierenden, die 2011 die Revolution trugen, sind viele im Gefängnis, im Exil oder tot.

In Ägypten gilt nun wieder, was seit Nassers Putsch 1952 galt: Das Militär regiert. Ein Vergleich, auf den auch al-Sisi gern verweist, wenn Bilder ihn vor Nasser zeigen. Nasser verfolgte Kritiker und Oppositionelle ebenso brutal wie heutzutage al-Sisi, aber seine Herrschaft beruhte, wie im sozialistisch-post­kolonialen Umfeld der fünfziger und sechziger Jahre üblich, auf dem Versprechen von Umverteilung. Er verstaatlichte den Suez-Kanal, begann eine Landreform, sicherte sich die Unterstützung der ärmeren Klassen durch günstige Lebensmittel und Energie, durch Wohnungen und kostenlose Bildung.

Al-Sisis Verbündete sind das Militär, der Sicherheitsapparat und die öko­nomische Führungsschicht. Letztere hatte ihren Reichtum den Reformen unter Mubarak zu verdanken und der enormen Konzentrierung der Vermögen, die diese bewirkt haben. Diese Politik setzt al-Sisi fort: Im Herbst 2016 hat er Strukturanpassungsmaßnahmen nach Vorgaben des Internationalen Währungsfonds beschlossen, die die Liberalisierung noch weiter treiben werden. Die Repression, die er installiert hat, dient nicht nur dazu, persönliche Konkurrenten auszuschalten, sondern auch dazu, diese Wirtschaftspolitik durchzusetzen.