Die rechtsextremen Motive des Attentäters vom Münchner Olympia-Einkaufszentrum wurden bisher nicht ausreichend beachtet

Ein Rassist wird entpolitisiert

Zwei Jahre nach dem Mordanschlag im und am Münchner Olympia-Einkaufszentrum sperren sich bayerische Behörden noch immer dagegen, eine extrem rechte Gesinnung des Täters als Tatmotiv anzuerkennen.

»Wegen euch wurde ich gemobbt, sieben Jahre lang.« Der Mensch, der den Satz brüllte, stand auf dem Dach eines Parkhauses. David S. hatte zuvor am und im Münchner Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) neun Menschen erschossen. Es gelang ihm, sich einige Stunden zu verstecken, ehe er sich am Abend selbst tötete und sich so seiner Verhaftung entzog.

Knapp zwei Jahre ist das her, die Tat fand am 22. Juli 2016 statt. Schnell vermuteten die Ermittlungsbehörden einen nicht politisch motivierten Amoklauf. Der Täter sei geistig verwirrt gewesen, ausgegrenzt und sozial isoliert, hieß es. Im von Staatsanwaltschaft und Landeskriminalamt (LKA) im März 2017 vorgelegten Abschlussbericht wird zwar auf ein Bündel von Motiven verwiesen, zentral seien aber psychische Störungen und das Mobbing durch Mitschüler gewesen. Ergänzend heißt es in dem Bericht: »Es ist auch nicht davon auszugehen, dass die Tat politisch motiviert war.«

S. hatte Bücher über Amokläufe gekauft und seine Tat akribisch geplant. Unter anderem hatte er sich für mehrere Tausend Euro über das Darkweb eine Pistole mit mehreren Hundert Schuss Munition besorgt. »Es wurde von vornherein festgelegt, dass das nichts Politisches ist«, sagte die bayerische Landtagsabgeordnete Claudia Stamm von der Partei »Mut«, eine Linksabspaltung der bayerischen Grünen, im Gespräch mit der Jungle World. »Da wurde nicht einmal geschaut, was mit einem eventuellen rechtsextremen Hintergrund sein könnte. Dabei waren die Anhaltspunkte von Anfang an da.«

Einer dieser Anhaltspunkte war, dass die Tat auf den fünften Jahrestag des Terroranschlags von Anders Breivik fiel, der 2011 in Norwegen 77 Menschen ermordet hatte. Zudem verwendete S. eine Glock 17 – dasselbe Pistolenmodell wie Breivik. Eine Auswertung des Computers von S. zeigte, dass er über ein Jahr lang nach genau diesem Modell gesucht hatte. Außerdem fand sich auf dem Rechner ein mutmaßlich von S. verfasstes Manifest, in dem er Migrantinnen und Migranten als »Kakerlaken« und »Virus« bezeichnet. »Ich bin Deutscher«, und: »Scheißtürken«, rief S. während der Tat. Die neun Todesopfer hatten unterschiedlichen Berichten zufolge alle oder fast alle einen migrantischen Hintergrund.

Und dann ist da die Sache mit dem »Anti-Refugee-Club«. Es handelt sich um eine mittlerweile gelöschte Gruppe im Steam-Netzwerk, einer Plattform für Computerspiele, der S. angehörte. Neben Computerspielen ging es dort vor allem um die Ablehnung von Geflüchteten und den Hass auf Muslime. Der Gründer der Gruppe, William A., schrieb drei Tage nach dem Münchner Anschlag, S. sei ein »guter Typ« gewesen, weil er ausschließlich Migranten getötet habe. Im Dezember 2017 er­öffnete A. selbst das Feuer in der Aztec High School in New Mexico, tötete zwei Menschen und anschließend sich selbst.

Bei einem Teenager in Ludwigsburg, ebenfalls Mitglied der Gruppe, fand die Polizei unter anderem Munition, eine Schutzweste und einen Plan seiner Schule. Er wurde festgenommen und ging dann freiwillig in psychiatrische Behandlung.

Das Bundesamt für Justiz stufte die Tat bereits im März als rechtsextrem ein und bot den Angehörigen der Opfer finanzielle Hilfe an.

Bezeichnend für die Ermittlungen ist, dass die Verbindungen zu S. in beiden Fällen nicht vom LKA entdeckt wurden. Es war der Tipp eines deutschen Steam-Users, der die Behörden nach Ludwigsburg führte, und die Verbindung in die USA fand der Politikwissenschafter Florian Hartleb, der über terroristische Einzeltäter forscht, im Rahmen seiner Recherchen. Über ein Jahr lang wertete das LKA zu diesem Zeitpunkt bereits den Computer von S. aus, ohne die US-amerikanischen Behörden über die Gruppe und ihren Gründer zu informieren.

Hartleb und zwei weitere Experten, Matthias Quent und Christoph Kopke, verfassten im Herbst 2017 unabhängig voneinander Gutachten. Alle drei stuften die Tat von S. als rassistisch beziehungsweise rechtsextrem motiviert ein. Die Landesregierung wies diesen Befund zurück. Die zuständige Münchner Staatsanwaltschaft I hielt weiter daran fest, Behauptungen von Kontakten in die extreme rechte Szene seien nicht mehr als »Verschwörungstheorien« – lange nachdem LKA-Beamte diese Kontakte bestätigt hatten. »Die Theorie vom armen, gemobbten, psychisch kranken Amokläufer«, wie Stamm es zusammenfasst, bleibe das gültige Modell für die bayerischen Ermittlungsbehörden.

Der Abschlussbericht der Landesregierung sollte eigentlich am 1. Juli veröffentlicht werden, seine Fertigstellung wurde aber verschoben. Es ist davon auszugehen, dass sich der Report außer auf den Bericht der Staatsanwaltschaft auch auf ein im April vorgestelltes Gutachten der Kriminalistin Britta Bannenberg stützen wird. Hinter verschlossener Tür stellte diese Vertretern der bayerischen Exekutive und Justiz ihre Sicht der Dinge dar. Wie die Süddeutsche Zeitung (SZ) Anfang Juni berichtete, führte Bannenberg in ihrem Gutachten auf 85 Seiten aus, die Tat sei nicht politisch motiviert ge­wesen. Die SZ zitiert aus dem ihr vorliegenden Gutachten Bannenbergs: »Der Täter war weder auf rechtsextremistischen Internetseiten noch in einschlägigen Foren aktiv, schon gar nicht hat er Kontakt zu rechten Gruppen ­gesucht, schon deshalb, weil er niemals eine Gruppentat im Sinn hatte.« Das LKA teilte der Jungle World auf Anfrage mit, es könne sich zurzeit dazu nicht äußern.

 

Das Bundesamt für Justiz dagegen stufte die Tat bereits im März als rechtsextrem ein und bot den Angehörigen der Opfer finanzielle Hilfe, die sogenannte Härteleistung, an. Am 13. Juni beschloss der bayerische Innenausschuss einen Antrag, der die Landesregierung zu einer Neubewertung der Tat aufforderte. Die neuen Erkenntnisse verfestigten »die These, dass der OEZ-Attentäter über ein geschlossenes rechtsextremistisches Weltbild verfügte und als Rechtsterrorist im Sinne eines einsamen Wolfs einzuordnen« sei, heißt es in der Begründung. Der Ausschuss stellte sich damit gegen die Landesregierung und die Behörden, Medienberichten zufolge sogar einstimmig, also inklusive der Stimmen der CSU-Ausschussmitglieder.

Kurz danach deutete Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) vorsichtig eine Kehrtwende an. »Natürlich war das keine Tat wie die NSU-Morde«, zitierte ihn die SZ, aber der Täter David S. habe »eindeutig auch ­rassistisches Gedankengut zunehmend verinnerlicht«.

Politisch hätte die Einordnung als rechtsextremer Terroranschlag erhebliche Konsequenzen. »Wenn David S. tatsächlich ein Rechtsterrorist war, dann wäre seine Tat der schwerste rechte Anschlag seit 1980, seit dem Oktoberfest-Attentat«, stellte die SZ fest. Statt der fünf versuchten oder vollendeten Tötungsdelikte, die der bayerische Verfassungsschutz in den vergangenen drei Jahren als politisch rechts motiviert einstufte, mindestens 14 – eher un­angenehm für die CSU, die lieber mit »viel Energie das Feindbild der links­extremistischen Verfassungsfeinde aufbaut«, sagt Stamm.

Interessant ist, dass im Fall S. eine Erkenntnis abgewehrt wird, die beim Islamismus selbstverständlich scheint: Der Terrorismus der Gegenwart ist nicht mehr nur der, der aus eingeschworenen Gruppen heraus verübt wird. Stattdessen kann auch eine lose Vernetzung im Internet ausreichen, um ­Individuen so aufzuhetzen, dass sie eigenständig und ohne Masterplan zur Waffe greifen.
Gelegentlich wurde die nichtdeutsche Herkunft von David S. als Argument gegen ein rassistisches Motiv genannt. Gegen diese These hatte sich Matthias Quent in seinem Gutachten gewandt. »Dass David S. selbst aus einer Einwandererfamilie kommt, steht weder theoretisch noch empirisch in Widerspruch mit rassistischen Vorurteilen oder rechtsextremen Orientierungen.« Einwanderungsgeschichte und Rassismus schlössen sich keineswegs aus, so Quent.

Stamm arbeitet eng mit der Rechtsanwältin Claudia Neher zusammen, die Angehörige von Opfern der Tat vertritt. Die Juristin will nun einen Antrag auf Akteneinsicht beim FBI stellte, um mehr über die Erkenntnisse der US-Behörden zu erfahren. Stamm wartet derweil weiterhin auf das Ergebnis einer Anfrage an die Landesregierung. »Versäumnisse festzustellen und da dann im Zweifel auch Konsequenzen daraus zu ziehen«, das sei es, worum es ihr und Neher gehe.