Nachruf auf Claude Lanzmann

Nicht müde bis zuletzt

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Unmittelbar nach Fertigstellung von »Warum Israel« begann Lanzmann mit den Dreharbeiten zu seinem Hauptwerk »Shoah«, das ihn von 1973 bis 1985 beschäftigte. So entstanden 350 Stunden Filmmaterial, die heute im Holocaust Memorial Museum in Washington archiviert sind. Der neuneinhalbstündige Film decke die »grauenvolle Wirklichkeit hinter der Tarnung – junge Wälder, frisches Gras – wieder auf«, schrieb Simone de Beauvoir über das Hauptwerk Lanzmanns. Ohne Kommentare und Voice-overs, lediglich als Montage des vorhandenen Materials, ist »Shoah« auch eine Reflexion über die Unmöglichkeit, einen Dokumentarfilm über die Judenvernichtung zu drehen. Die Zeugen, Über­lebende wie auch Täter, sind Darsteller in einer Inszenierung. Dabei treten jedoch die Täter und Opfer anders als in herkömmlichen Dokumenta­tionen in keinen Dialog miteinander; ihre Erinnerungen werden nicht als gleichwertig behandelt. Während die Überlebenden in den Gesprächen an ihre Grenzen gelangen und diese auf Drängen Lanzmanns immer wieder auch überschreiten, können sie sich stets der Empathie des Regisseurs sicher sein. In den Interviews mit den Tätern, die teils heimlich aufgenommen wurden, merkt man Lanzmann, dem immer neue Lebenslügen aufgetischt werden, seine enorme Wut an.

»Keiner der Überlebenden in ›Shoah‹ sagt ›ich‹. Und keiner erzählt seine persönliche Geschichte«, so Lanzmann. Vielmehr macht er sie zu Sprechern der Toten, zu ihren »Wortführern«, und zeigt die zugewucherten Orte des Verbrechens, über die im wörtlichen Sinne Gras gewachsen ist.

»Keiner der Überlebenden in ›Shoah‹ sagt ›ich‹. Und keiner erzählt seine persönliche Geschichte«, so Lanzmann. Vielmehr macht er sie zu Sprechern der Toten, zu ihren »Wortführern«, und zeigt die zugewucherten Orte des Verbrechens, über die im wörtlichen Sinne Gras gewachsen ist. Es gehe ihm um die »Vergegenwärtigung der Vergangenheit in der Gegenwart«, so Lanzmann, um die Verletzungen, die die Überlebenden noch immer mit sich tragen, und auch um die Kontinuitäten des Antisemitismus: »Israel ist nicht die Er­lösung vom Holocaust. Diese sechs Millionen sind nicht gestorben, damit ­Israel existieren kann. Das letzte Bild in ›Shoah‹ ist ein anderes. Es zeigt ­einen fahrenden Zug. Es will sagen, dass der Holocaust kein Ende hat.«

Den Abschluss seiner Trilogie über die jüdische Identität bildet der 1994 fertiggestellte Film »Tsahal«, der sich mit der »Eroberung des Muts« beschäftigt; es geht um die militärische Verteidigung Israels. »Die Nationen der Welt sind heute schnell bei der Hand, Israel zu verurteilen, und vergessen dabei das Überlebensproblem, das sich diesem Land unentwegt stellt. Sie nehmen die militärische Macht Israels als gegeben hin und sind nicht einmal erstaunt darüber. Dieses mangelnde Erstaunen halte ich für eine große Gefahr«, erklärte Lanzmann die Intention seines Films. Da in »Tsahal« die »Wieder­aneignung von Macht und Gewalt durch die Juden« als Bedingung der Möglichkeit eines jüdischen Staats dargestellt wird, ist der Film schnell in die Kritik geraten. Auf seiner Premiere verübte eine dem Front National nahestehende Studentenorganisation einen Tränengasanschlag. Juden, die sich wie Lanzmann als eine Lehre aus der Shoah geschworen hatten, »nie wieder passiv zu sein«, entsprachen nicht dem Klischee des Opfers, das mit seiner Vergangenheit abgeschlossen hat.

Er sei wie ein Dinosaurier auf einer Autobahn, sagte Benjamin Murmelstein in Lanzmanns Film »Der Letzte der Ungerechten«, störend und allen im Weg, völlig aus der Zeit ­gefallen. Auf Lanzmann trifft diese Beschreibung ebenfalls zu; bis zuletzt widersetzte er sich allen Klischees des Jüdischen, stellte sich den Revisionisten in den Weg und bekämpfte rechten wie linken Antisemitismus. Seit dem 5. Juli muss die Debatte ohne seine Stimme geführt werden: Claude Lanzmann starb im Alter von 92 Jahren in Paris.