Die Revolution braucht weder Wehrdienst noch Pazifismus

No war but class war

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Auch Rackwitz’ zumindest regierungskritische Forderung nach einer »Bewaffnung der Masse« als »mächtigster Form der Kontrolle der Herrschenden durch die Bevölkerung« nimmt die bewaffneten Bürger ganz für das Staatswohl in die Verantwortung. Passend dazu zitiert sie den zweiten Zusatz­artikel der US-amerikanischen Verfassung, wonach »eine wohlgeordnete ­Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig« sei. Friedrich Engels hingegen begriff die allgemeine Wehrpflicht zwar ebenfalls als »notwendige und natürliche Ergänzung des allgemeinen Stimmrechts«, fasste sie jedoch wesentlich kritischer als Fähigkeit der Stimmenden, »ihre Beschlüsse gegen alle Staatsstreichversuche mit den Waffen in der Hand durchzusetzen«.

Miller und Goldstein weisen zu Recht darauf hin, dass eine »Volksbewaffnung« heutzutage vor allem gesellschaftliche Randgruppen gefährden würde, überlassen diese damit jedoch umgekehrt bereitwillig dem Gewaltmonopol des Staats. Tatsächlich bewaffnen sich Teile der Bevölkerung unter staatlicher Duldung längst selbst, um den Fortbestand der herrschenden Verhältnisse zu ­sichern: Von 2015 bis 2017 hat sich die Zahl der kleinen Waffenscheine in Deutschland von 285 911 auf 557 560 nahezu verdoppelt. In den USA erstarkte die extrem rechte Milizenbewegung in Opposition zur Präsidentschaft Barack Obamas, um nun, nach wiedergewonnener Identifikation mit der Herrschaft, Präsident Donald Trump zu unterstützen.

Wo aber liegt praktisch wie theoretisch der Unterschied zwischen den Forderungen der sozialistischen Arbeiterbewegung und Rackwitz’ Aufruf? Während letzterer sich ans linkspolitisierte bürgerliche Subjekt richtet und fragt, was sein Beitrag zur Verteidigung des bürgerlichen Rechtsstaats und den ihm gewährten Freiheiten sein könnte, hatten Erstgenannte die Emanzipation des proletarischen ­Klassensubjekts im Sinn. Deshalb schlossen sich an den von ihr zitierten Aufruf von Marx zur ­Bewaffnung der Arbeiter im Zuge der Märzrevo­lution 1848 die Forderungen an, sie sollten sich »selbständig als proletarische Garde, mit selbstgewählten Chefs und eigenem selbstgewählten Generalstabe (…) organisieren und unter den Befehl, nicht der Staatsgewalt, sondern der von den Arbeitern durchgesetzten revolutionären Gemeinderäte (…) treten. Wo Arbeiter für Staatsrechnung ­beschäftigt werden, müssen sie ihre Bewaffnung und Organisation in ein ­besonderes Korps mit selbstgewählten Chefs oder als Teil der proletarischen Garde durchsetzen. Die Waffen und die Munition dürfen unter keinem Vorwand aus den Händen gegeben (…) werden.«

Es wäre verfehlt, würden Linke heutzutage trotz Fehlens einer Klassenbasis mit vergleichbaren Forderungen aufwarten. Ebenso falsch ist es jedoch, linke Bürger zum Marsch in die Institutionen aufzurufen. Stattdessen gilt es, sich die gesellschaftlichen Bedingungen für die Durchsetzungsfähigkeit solcher Forderungen bewusst zu machen: Die revolutionäre Perspektive von Marx, Engels und Luxemburg basierte weder beim Wahlrecht noch bei der Wehrpflicht auf deren simpler Allgemeinheit – diesbezüglich hatten sie ihre Lehren aus dem Bonapartismus gezogen –, sondern auf dem Hineintragen des Klassenkampfs in diese Bereiche mit dem Anspruch, die reale Macht den Institutionen abzutrotzen und in die Hände des Proletariats zu über­führen. Die materielle Voraussetzung entsprechender Klassenorganisationen ist heutzutage nicht gegeben. Der Eintritt von Linken in die Bundeswehr würde deshalb zu einer ähnlichen ­Indienstnahme für das Wohl der Nation führen wie die Beteiligung am parlamentarischen Betrieb.

Kurz vor seinem Tod 1895 konstatierte Friedrich Engels im Rückblick auf die gescheiterte Märzrevolution, dass die Barrikade nach der Hinwendung des Bürgertums zur politischen Herrschaft ihren Zauber verloren habe und der Soldat hinter ihr »nicht mehr das ›Volk‹, sondern Rebellen, (…) Plünderer, (…) den Auswurf der Gesellschaft« erblicken musste. Diese Erfahrung dürfte auch den autonomen Straßenkämpfern von heute nicht unbekannt sein. Angesichts der einsetzenden industriellen Militarisierung hielt Engels einen ­militärischen Aufstand für immer weniger erfolgsversprechend und betonte, dass der Erfolg von Aufständischen bei militärischen Auseinandersetzungen umso mehr von äußeren Einflüssen wie der Unterstützung der Massen und ­Desertionen in den gegnerischen Reihen abhänge.

Anstatt auf die Kritik an den Zwecken der Kriegsführung zu verzichten, den inneren Frieden für die Außenpolitik einzufordern und den Staat damit ­lediglich zur Verfolgung derselben Interessen mit seinem Arsenal an nicht­militärischen Instrumenten anzuhalten, müsste umgekehrt der alltägliche, ­weitestgehend unsichtbare Bürgerkrieg der kapitalistischen Klassengesellschaft so sichtbar gemacht werden, wie er den drei Soldaten in Brechts Gedicht zum Klassenkampf gegenübertritt.

Die Bedingungen liegen mit den herrschenden Verhältnissen ebenso unverändert vor, wie sich die Notwendigkeit ihrer Überwindung aufdrängt. Gegen ­allen pazifistischen Betrug gilt es, mit Ernst Bloch festzuhalten: »Die Lanzen werden erst sicher zu Pflugscharen, sobald der Boden, worüber der Pflug geht, allen gehört; keine Stunde früher, keine später.«