Im franquistischen Spanien raubten Mediziner, Pflegepersonal und Geistliche Neugeborene und verkauften sie an regimetreue

Das Land der gestohlenen Kinder

Derzeit steht in Madrid der ehemalige Leiter einer Klinik wegen Kindesentführung vor Gericht. Im franquistischen Spanien raubten Mediziner, Pflegepersonal und Geistliche Neugeborene und verkauften sie an regimetreue Familien. Auch aus Marokko wurden Kinder nach Spanien entführt.
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Tot geboren oder nach der Geburt gestorben – diese schreckliche Nachricht erhielten die Frauen nach der Ent­bindung. Die Kinder waren allerdings gar nicht tot. Vor allem während der Franco-Diktatur von 1939 bis 1977 und sogar bis in neunziger Jahre hinein wurden Neugeborene in Spanien, meist unter Vortäuschung eines plötzlichen Todes der Babys, in Krankenhäusern ihren Müttern geraubt und verkauft. Es gibt keine offiziellen Zahlen, Organisationen von Betroffenen gehen von annähernd 300 000 Fällen zwischen 1940 und 1990 aus. Nur in etwa zehn Prozent der Fälle kam es zu einer Anzeige.

Das Vorgehen glich sich meist. Vorwiegend fanden die Taten in Kliniken statt, in denen katholische Ordensschwestern arbeiteten. Kurz nach der Entbindung sagten häufig Schwestern den Müttern, das Baby habe die Geburt nicht überlebt.

Hebammen oder Krankenschwestern fälschten Geburtsurkunden, meist auf Anweisung oder mit Wissen der Klinikleitung, die wiederum Sterbeurkunden oder Bestattungszertifikate ausstellte. Netzwerke aus Ärzten, Pflegepersonal und Geist­lichen verkauften die Babys für hohe Summen an regimetreue, meist wohl­habende Familien mit Kinderwunsch.

Unmittelbar nach dem Ende des ­Bürgerkriegs 1939, im Zuge der »ideologischen Säuberungen« und Massenhinrichtungen, wurden vor allem Neugeborene von Müttern geraubt, die mit republikanischen Kämpfern verheiratet oder selbst Republikanerinnen waren. Zum Tode verurteilte Schwan­gere wurden erst nach der Entbindung hingerichtet. In der franquistischen Rassen­ideologie, in der die »Rasse« nicht nur an der Hautfarbe, sondern auch an politischen und kulturellen Faktoren festgemacht wurde, galt der ­republikanische Gegner als minderwertig, die Entwicklung seiner Kinder ­jedoch noch als korrigierbar. Der Kindsraub war also durchaus Ausdruck des Wahns von der »Rassereinheit«. Auch in späteren Jahrzehnten wurden häufig Kinder regimekritischer Eltern geraubt. Die Täter ließen sogar leere Kindersärge beisetzen, um den Kindsraub zu verschleiern. Graböffnungen haben das mittlerweile bewiesen.

Organisationen von Betroffenen gehen von annähernd 300 000 Fällen geraubter Neugeborener in Spanien zwischen 1940 und 1990 aus.

Nur wenige der geraubten Kinder erfuhren bislang von ihrer Herkunft. Inés Madrigal etwa kam 1969 in der privaten Clínica San Ramón in Madrid zur Welt. Zu ihrem 18. Geburtstag sagte ihr ihre Ziehmutter Inés Pérez, dass sie ein Adoptivkind sei. Madrigals Zieheltern konnten keine eigenen Kinder bekommen. Über einen Priester, der mit dem damaligen medizinischen ­Leiter und Miteigentümer der San-Ramón-Klinik, Eduardo Vela, befreundet war, bekam das Paar Gelegenheit, sich den Kinderwunsch dennoch zu erfüllen. Vela versprach Angaben der Zieh­mutter zufolge, »ein neugeborenes Kind am Rande der Legalität zu besorgen«. Dafür müsse Inés Perez aber eine Schwangerschaft simulieren, indem sie ein Kissen vor dem Bauch trage und Bekannten typische Begleiterscheinungen wie Übelkeit vorspiele.

All das war schließlich nicht notwendig. Wie Madrigal berichtet, sagte der Mediziner dem Ehepaar nur wenige Tage nach dem ersten Kontakt, »das Baby für sie bereit zu haben«. Madrigal kam der gefälschten Geburtsurkunde zufolge am 4. Juli 1969 genau um 12 Uhr zur Welt. Guillermo Peña, Madrigals Anwalt, nimmt an, dass seine Mandantin ein Geschenk Velas an das Paar war, ein Freundschaftsdienst.

Als Madrigal 2010 in der Tageszeitung El País von Fällen geraubter Kinder in der San-Ramón-Klinik las, entschloss sie sich, Nachforschungen anzustellen. Antonio Barroso, der Präsident des ­Vereins Asociación Nacional de Afectados por Adopciones Irregulares ­(Anadir) und selbst ein »gestohlenes Kind«, half ihr. Anadir brachte 2011 eine erste Sammelklage von 247 Opfern des Kindsraubs in der San-Ramón-­Klinik ein. Mit Barroso besuchte Madrigal das Standesamt, um ihre Geburtsdokumente einzusehen, die sich als Fälschungen entpuppten. 2011 bewies auch ein Vaterschaftstest die Geschichte ihrer Ziehmutter. Madrigal wurde Präsidentin der Opfervereinigung SOS ­Bebes Robados Murcia und hat den Mediziner Vela verklagt. Ihre Zieheltern sind inzwischen gestorben.

Seit dem 26. Juni steht Vela in Madrid vor dem Provinzgericht. Die Staats­anwaltschaft fordert elf Jahre Haft, unter anderem wegen Kindesentführung und Dokumentenfälschung, sowie eine Entschädigung von 350 000 Euro für Madrigal. Der mittlerweile 85jährige ehemalige Mediziner pocht einerseits darauf, dass er nicht verhandlungsfähig sei, da er an einer degenerativen ­Erkrankung leide. Zudem behauptet er, sich an nichts erinnern zu können, und bestreitet die Tat. Zu den meisten Fragen der Richterin und des Staats­anwalts schweigt Vela. 2014, als er von Journalisten des französischen Senders France 2 aufgespürt und auf Madrigal angesprochen worden war, war seine Erinnerung weit klarer gewesen. »Ja, ich habe sie hergeschenkt. Ich habe ein ruhiges Gewissen«, hatte er damals ­gesagt. Bereits am zweiten Verhandlungstag blieb Vela dem Gericht fern. Seinem Anwalt Rafael Casas zufolge befindet er sich im Krankenhaus.

Madrigals Hoffnung ist, dass Vela möglichst viele Informationen preisgibt. Die San-Ramón-Klinik unterhielt von den Fünfzigern bis zu ihrer Schließung 1982 enge Kontakte zu einem katholischen Frauenorden. Die 2013 verstorbene Schwester María Gómez Val­buena soll den Kindsraub maßgeblich organisiert und unter anderem schwangere Frauen, deren Eltern diese Tatsache verschleiern wollten, in den letzten drei Monaten bis zur Entbindung in Privatwohnungen versorgt haben. Allein dieses Netzwerk aus Klinikmitarbeitern und Ordensschwestern soll mehrere Hundert illegale Adoptionen getätigt haben. Opfervereine fordern bereits seit Jahren Unterstützung von der spanischen Regierung, und vor ­allem eine DNS-Datenbank, um Verdachtsfälle abgleichen zu können.

 

Auch in Marokko, in Kliniken der Städte Nador und Oujda, gab es ein Netzwerk, das Babys raubte und für kinderlose Paare in Spanien und Frankreich über Spaniens nordafrikanische Enklave Melilla außer Landes brachte. Einer von bisher 53 bekanntgewordenen Fällen ist der von J. (39), den die Tageszeitung El Mundo bei seiner Spurensuche in Marokko beglei­tete. Geboren wurde J. im März 1979 in der al-Hassani-Klinik der Hafenstadt Nador, keine 20 Kilometer von Melilla entfernt.

Von seinen Zieheltern, die ihm bereits im Kindesalter offenbarten, dass er in Melilla adoptiert worden sei, wurde er liebevoll erzogen. In diesem Frühjahr reiste er erstmals nach ­Marokko, um mehr über den Kinderhandel und im besten Fall etwas über seine leiblichen Eltern zu erfahren. In der al-Hassani-Klinik soll es 21 Fälle von Kindsraub mit 31 involvierten Personen gegeben haben, von denen noch keine strafrechtlich belangt wurde.

In Nador machte J. zwei ehemalige Ärzte des Krankenhauses ausfindig sowie einen ehemaligen Polizisten und eine Krankenschwester, die in den Siebzigern und Achtzigern dort gearbeitet hatten. 2013 hatte der spanische Fernsehsender La Sexta bereits den Namen der Mittelsfrau herausgefunden, die den Schwestern der Klinik umgerechnet 300 Euro pro Kind bezahlt hatte. Mit dieser Frau hatten auch J.s Adoptiveltern in Kontakt gestanden. Fünf Babys hatte sie 1979 über die Grenze nach Melilla gebracht, darunter auch J.

Einige Kinder wurden zu Zieheltern nach Frankreich gebracht – wie der 1978 in Berkane, 90 Kilometer von Melilla entfernt, geborene Brahim Kermaoui. Er wuchs in Frankreich auf und beschrieb die erfolglose Suche nach seinen leiblichen Eltern in dem autobiographischen Buch »L’enfant égaré«, das 2015 erschien.

Von Erfolg gekrönt waren dagegen die Nachforschungen, die der 1981 ­geborene Mohammed Ali Bennani anstellte. Er war in der Klinik in Salé bei Rabat nach der Geburt gestohlen worden und in Frankreich aufgewachsen. Mit 20 Jahren entdeckte er zufällig auf einem alten ärztlichen Attest seines ­Adoptivvaters, dass dieser unfruchtbar ist, und verlangte, die Wahrheit zu erfahren. 2002 begann er die Suche nach seinen leiblichen Eltern. Sein leiblicher Vater hatte ihn glücklicherweise ins Geburtenbuch Salés eintragen lassen – obwohl die Klinik offiziell seinen Tod nach der Geburt dokumentiert hatte. Dadurch und durch den Zugriff auf die Archive des Krankenhauses konnte Bennani seine leibliche Familie ausfindig machen. 2016 traf er zum ersten Mal seine leibliche Mutter und zwei Geschwister.