Ist es angesichts der Krise der liberalen Gesellschaft übertrieben, von Faschismus zu sprechen? Beginn einer Debattenreihe

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Erlebt die westliche Welt einen Aufstieg des Faschismus? Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass dieser als Massenbewegung mit einem charismatischen Führer in Erscheinung tritt, ist es nicht übertrieben, von Faschisierung zu sprechen.

»Um zu begreifen, was gerade in der Welt vor sich geht, müssen wir über zwei Dinge nachdenken. Das eine ist, dass wir in einer Phase der Testläufe ­leben. Das andere ist, dass das, was erprobt wird, der Faschismus ist – ein Wort, das man mit Vorsicht verwenden, aber nicht vermeiden sollte, wenn es sich so klar abzeichnet«, schrieb der irische Intellektuelle Fintan O’Toole am 26. Juni in einem Artikel in der Irish Times, dessen Überschrift »Probeläufe für den Faschismus sind in vollem Gange« lautete. Angesichts der Tatsache, dass sich, insbesondere in der Flüchtlingsfrage, die Barbarei offen zeigt und extreme Rechte in manch europäischen Ländern bereits auf der Regierungsbank sitzen, drängt sich tatsächlich die Frage auf, ob der Westen zurzeit nicht einem Aufstieg des Faschismus erlebt.

Es ist ein Patchwork-Faschismus, der dem neoliberalen Individualismus entspricht und für dessen Mobilisierung es kein politisches Programm braucht.

Die Zeiten sehen düster aus. In ­Österreich ist mit der FPÖ eine extrem rechte Partei an der Regierung beteiligt; in Italien will Innenminister Matteo Salvini von der rechtsextremen Lega Zählungen von Roma und Sinti veranlassen; in Ungarn gewinnt Viktor ­Orbán mit einer rassistischen und antisemitischen Kampagne die absolute Mehrheit bei den Parlamentswahlen. Währenddessen diskutiert Die Zeit, als Vertreterin des deutschen Linksliberalismus, unter dem Titel »Oder soll man es lassen?« ernsthaft die Frage, ob man Geflüchtete in Seenot nicht retten, sondern besser sterben lassen sollte. Hunderte Menschen auf dem Dresdner Neumarkt haben die Antwort für sich schon gefunden: »Absaufen!« skandierten sie dort lauthals Ende Juni bei einer Pegida-Kundgebung. Die Liste ­ließe sich lange weiterführen.

Die gesellschaftlichen Maßstäbe in Europa haben sich rasant nach rechts verschoben. Noch vor wenigen Jahren hätte das Verhalten von EU-Staaten wie derzeit Italien Sanktionen oder zumindest eine Rüge durch den Staatenverbund zur Folge gehabt. Mittlerweile werden die verbleibenden liberalen Kräfte von der chauvinistischen »Achse der Willigen« vor sich hergetrieben. Exemplarisch für die Rechtsverschiebung der vergangenen Jahre steht in Deutschland der Einzug der AfD in den Bundestag und die anschließende ­Radikalisierung der Partei, die mittlerweile offen einen völkischen Nationalismus vertritt. Ein Blick in ihre Chatgruppen lässt keine Zweifel mehr, wovon ihre Anhänger und Anhängerinnen nachts träumen: Verbot und Verfolgung der Opposition, Ausschaltung der freien Presse bis hin zu sadistischen Vernichtungsphantasien gegenüber politischen Gegnern und Geflüchteten. Es besteht kein Zweifel mehr, dass man es bei der AfD, wenn nicht mit einer faschistischen Partei, so zu­mindest mit einer Partei von Faschisten zu tun hat. Knapp sechs Millionen Menschen in Deutschland haben ihr die Stimme gegeben, und mit jedem »Skandal«, jeder neuerlichen rassistischen Entgleisung scheint die Unterstützung zu wachsen.

Die AfD ist aber nicht die größte Bedrohung, sondern vielmehr Symptom der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Begriffe mit faschistischer Tradi­tion (»konservative Revolution«, »Europa der Vaterländer«) sind aus dem rheto­rischen Fundus der sogenannten Neuen Rechten längst in den konservativen Mainstream gewandert und offen ­faschistische Bewegungen dienen als Stichwortgeber für die Politik.

Während etwa die völkischen Hipster der »Identitären Bewegung« mittlerweile überall als rechtsextrem gelten und in Österreich sogar wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung vor Gericht stehen, ist ihr politisches Programm in Teilen Europas bereits zur Staatsräson geworden. Die menschenverachtende Forderung nach Einstellung der Seenotrettung, die sie voriges Jahr mit ihrer Kampagne »Defend Europe« noch selbst in die Tat umsetzen wollten und dabei kläglich scheiterten, wird nun von der italienischen Regierung realisiert. Die österreichische Grenzpolizei führte im Juni unter dem Namen »Pro Borders« am Grenzübergang Spielfeld eine große Übung zur Abwehr von Geflüchteten durch. Die Enthumanisierung der Flüchtlingspolitik findet im Namen der Demokratie statt und wird von einem immer größer werdenden Teil der ­Gesellschaft unterstützt, für die der Verweis darauf, dass Menschenrechte universell sind und auch für »die anderen« gelten, bereits als linkes Geschwätz gilt. Diese autoritäre Revolte hat in Deutschland längst die höchste Regierungsebene erreicht, wie der gerade noch abgewendete Putschversuch des Innenministers gezeigt hat.