Ist es angesichts der Krise der liberalen Gesellschaft übertrieben, von Faschismus zu sprechen? Beginn einer Debattenreihe

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Dass sich autoritäre Charaktere bald in einer uniformierten Massenbewegung mit einem auserwählten Führer organisieren, ist unwahrscheinlich. Aber ist es deswegen übertrieben, von ­Faschisierung zu sprechen? Nicht, wenn man Faschismus als soziale Praxis, als eine geistige Haltung ­begreift, die als solche benannt werden können, ­bevor sie in einer Gesellschaft hegemonial werden. Der heutige Faschismus vertritt keine geschlossene Weltanschauung, sondern besteht aus einem Konglomerat antidemokratischer, autoritärer, völkischer und patriarchaler Vorstellungen. Ein Patchwork-Faschismus, der dem neoliberalen Individualismus entspricht und für dessen Mobilisierung es kein politisches Programm braucht.

»Herd, Heimat und Hass«, so der passende Titel eines Features des Deutschlandfunks, ist der gemeinsame Nenner der modernen Regression. Ein »Faschismus ohne Faschismus«, wie der ungarische Philosoph G. M. Tamás die politische Agenda Viktor Orbáns bezeichnet hat. Dies macht es schwieriger, ihn als solchen zu begreifen.

Aber ist es überhaupt möglich, ­Faschismus rechtzeitig zu erkennen, bevor seine Schergen an der eigenen Haustür klopfen? Es ist ein grundsätzliches Problem, dass man das Ausmaß gesellschaftlicher Veränderungen oftmals erst im Nachhinein begreift, weil man selbst Teil von ihnen ist. Jeden Tag sieht man, wie sich die Gesellschaft um einen herum rasant von ganz simplen humanitären Werten verabschiedet. Nun weiß man schon lange um die Kluft zwischen dem zivilisatorischen Anspruch westlicher Gesellschaften und der realen Gewalt und Ausbeutung, die diese produzieren, besonders außerhalb ihrer eigenen Staatsgrenzen. ­Geflüchtete ertrinken bereits seit Jahren im Mittelmeer. Wenn es aber keinen humanitären Anspruch der bürger­lichen Gesellschaft mehr gibt, sondern jene Gewalt nun juristisch legitimiert und institutionalisiert werden soll, wird es eng für die Kritiker, die auf liberale Werte pochen. Die Diskussion über den Umgang mit Geflüchteten geht dabei über die konkrete Situation im Mittelmeer oder in den Folterlagern in Nordafrika hinaus. Denn Gefahr für Minderheiten und Opposition entsteht nicht erst, wenn diese explizit zum Feindbild erklärt werden, sondern bereits dann, wenn liberale Werte und Menschenrechte an sich offen zur Disposition stehen. Und dies ist gerade unzweifelhaft der Fall. Dass der Antisemitismus bei den aktuellen faschistischen Bewegungen im Unterschied zu ihren his­torischen Vorläufern bisher keine so große Rolle zu spielen scheint, sollte europäische Juden und Jüdinnen nicht dazu veranlassen, sich in Sicherheit zu wiegen, betonte der israelische Politologe und Holocaust-Überlebende Zeev Sternhell bereits 2016.

Faschismus fegt nicht in einer Revolution die Demokratie hinweg, sondern setzt sich in einem schleichenden Prozess in der Gesellschaft und ihren ­Institutionen durch. Hierfür bedarf es gewisser Voraussetzungen. Demokra­tische und liberale Werte über Bord zu werfen, ist eine davon. Eine weitere ist die Unfähigkeit zur Identifikation mit den Opfern. Diese hat Theodor W. Adorno in »Erziehung nach Auschwitz« als die wichtigste psychologische Bedingung dafür genannt, dass der Holocaust ­»inmitten von einigermaßen gesitteten und harmlosen Menschen« stattfinden konnte. ­Diese totale Empathielosigkeit – die schon längst nicht mehr nur bei ausgewiesenen Rechten zu beobachten ist – lässt sich gerade in vielen Diskussionen beobachten, ob es um den Selbstmord von Jamal M. nach seiner Abschiebung nach Afghanistan oder die ertrunkenen Kleinkinder im Mittelmeer geht. Die faschistische Dispo­sition ist da, und sie geht über die AfD-Wählerschaft hinaus. Für diese Erkenntnis braucht es heute keine Studien zum autoritären Charakter, es reicht ein Blick in die Kommentarspalten der sozialen Medien.

Die Leute, die jene Kommentare verfassen, mögen empathielose Rassisten sein, Faschisten sind sie deswegen noch nicht automatisch. Auch wird in Deutschland gerade von keiner ernst­zunehmenden politischen Kraft eine Diktatur vorbereitet. Man kann aber davon ausgehen, dass viele zu willfährigen Handlangern werden, sollte die AfD tatsächlich in den kommenden Jahren, vielleicht ja sogar in Koalition mit der CSU, die Regierung übernehmen. Leider gibt es gerade wenig Grund, ­dieses Szenario nicht als realistische Option zu betrachten.

»Der traditionelle Antifaschismus hat sich geirrt. Zu lange glaubte er, die ­neofaschistischen Bewegungen seien lediglich ein Rückfall in die Vergangenheit, nicht mehr als der folkloristische Überrest der Duce-Ära. Tatsächlich aber hat sich die radikale Rechte durchgesetzt«, kommentierte neulich Donatella Di Cesare, Professorin für Philosophie an der Universität Rom, die Situa­tion nach den Wahlen in Italien. Angesichts der am Rande des EU-Treffens in Innsbruck inszenierten rhetorischen Wiederbelebung der Achse Berlin-Rom durch Seehofer und Salvini sollte man die Warnung aus Italien ernst nehmen.