Nur wer zum nationalen Kollektiv gehört, soll auch Leistungen erhalten

Völkische Sozialpolitik in Europa

Viele rechtspopulistische Parteien in Europa präsentieren sich als Gegner von Wirtschaftsliberalismus und Austerität. Die soziale Absicherung für die nationale Klientel geht einher mit einer rigiden Abschottung gegen unerwünschte Migranten.

Wenn es nach dem Willen der österreichischen Regierung geht, sollen künftig Kindergeldzahlungen für im Ausland lebende Kinder nur noch ­entsprechend der dortigen Lebenshaltungskosten geleistet werden. Dadurch will die Regierungskoalition aus der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) und der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) über 100 Millionen Euro einsparen. Ihre Begründung: Das Geld solle für »Kinder in Österreich« verwendet werden.

Oberbürgermeister mehrerer deutscher Großstädte hatten vergangene Woche ebenfalls vor einer gezielten Einwanderung von »Armutsflüchtlingen« gewarnt. Unterstützung erhielten sie von der SPD-Führung. Im Gegensatz zur deutschen Sozialdemokratie lehnt ihre österreichische Schwesterpartei eine derartige Politik jedoch ab. In Deutschland beträgt das Kindergeld mindestens 194 Euro monatlich, in ­Österreich beginnt die Familienbeihilfe mit rund 120 Euro und steigt mit dem Lebensalter der Kinder. In Bulgarien sind es hingegen 18 Euro und in Rumänien zehn Euro.

Bereits in ihrem Wahlprogramm hatte die FPÖ propagiert, dass diejenigen bevorzugt Sozialleistungen bekommen sollten, die ins System eingezahlt haben und Leistung erbringen. Hingegen sei die »Zuwanderung ins Sozialsystem« zu unterbinden. Im Zentrum steht dabei die Frage, wer überhaupt berechtigt ist, soziale Leistungen zu beziehen. In vielen europäischen Ländern legen nach jahrzehntelanger Austeritätspolitik gerade nationalistische und rechtspopulistische Parteien großen Wert darauf, sich als Verfechterinnen sozialer Gerechtigkeit zu präsentieren.

Als Erfolg für die polnische Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) erwies sich die Einführung eines neuen Kindesgeldes. Ab dem zweiten Kind gibt es 115 Euro, besonders arme Familien bekommen die Zahlung schon ab dem ersten Kind. Die Regierung will damit nach eigenen Angaben die niedrige Geburtenrate erhöhen. Zudem setzte die PiS-Regierung einen Mindestlohn von umgerechnet drei Euro pro Stunde fest, senkte das Renteneintrittsalter, führte die kostenlose Versorgung von Pensionären mit Medikamenten ein, erhöhte den Steuerfrei­betrag für niedrige Einkommen und initiierte ein staatliches Wohnbau­programm. Doch so großzügig sich die polnische Regierung bei der Einführung neuer sozialer Leistungen zeigt, so rigide ist sie gegen die Aufnahme von Geflüchteten und Migranten. Sozialleistungen soll es nur für die autochthonen Bürger geben. Dass nun die rechtspopulistische Regierung in Österreich ähnlich argumentiert und ­soziale Leistungen für im Ausland lebende Kinder kürzen will, verärgert wiederum die polnische Regierung. Polnische Arbeitsmigranten stellen die größte Gruppe derer, die  Kindergeld für nicht in Österreich lebende Kinder beziehen.

Die Berechtigung, Sozialleistungen zu erhalten, wird nun zum Ausweis dafür, ob man zum nationalen Kollektiv gehört oder nicht.

Dennoch ist die nationalkonservative PiS mit ihrer sozialen Ausrichtung konsequenter als andere europäische Parteien ähnlichen Typs. Mit dem Slogan »Guter Wandel« (Dobra zmiana) hatte sie 2015 einen erfolgreichen Wahlkampf geführt, wobei als »gut« in erster Linie die Rücknahme der sozialen Härten der wirtschaftsliberalen Vorgängerregierungen verkauft wurde. Eine aktuelle Untersuchung von Euro­stat zeigt, dass Polen das Land mit den größten Gehaltsunterschieden in der EU ist. Rund sechs Prozent der Polen leben unter der Armutsgrenze, rund zwölf Prozent sind sozialhilfeberechtigt. Für die meisten von ihnen spielt der Streit um das Verfassungsgericht oder der Zustand der staatlichen Me­dien, die zuletzt für Massenproteste gegen die Regierung gesorgt hatten, kaum eine Rolle. Für sie ist wichtig, wie ihre Familie jeden Monat über die Runden kommt. Bei Umfragen liegt die PiS seit ihrem Regierungsantritt un­unterbrochen in Führung und baut ihre politische Dominanz weiter aus. »Loyalitätsbeschaffung durch Massenklien­telismus« nennt dies der an der Univer­sität Princeton lehrende Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller.

Diese Strategie ist nicht bei allen rechtspopulistischen Parteien gleichermaßen akzeptiert. So kommen beispielsweise die Schweizerische Volkspartei (SVP) oder auch die FPÖ aus einer wirtschaftsliberalen Tradition, die staatliche Umverteilung kritisch beurteilt. Auch bei der »Alternative für Deutschland« (AfD) ist noch nicht ausgemacht, ob sich der marktradikale Flügel oder die na­tionalsoziale Fraktion durchsetzt.

In Ländern, die in den vergangenen Jahren unter der europäischen Austeritätspolitik gelitten haben, präsentieren sich populistische Parteien hingegen mehr denn je als soziale Alternative. In Italien etwa hat die Fünf-Sterne-­Bewegung (Movimento 5 Stelle, M5S) die Sozialpolitik als attraktives Thema für sich entdeckt. Vor allem Arbeits­lose, Studierende und prekär Beschäftigte haben die Partei wegen ihres wichtigsten Wahlversprechens gewählt, des reddito di cittadinanza (Bürger­einkommen) – eine am deutschen Hartz-IV-Modell orientierte Grundsicherung für Arbeitssuchende ohne Vermögen. Für Italien, wo es bis vor kurzem überhaupt keine Leistungen für Langzeitarbeitslose gab, wäre das eine weitreichende sozialpolitische Maßnahme. Der Koalitionspartner des M5S, die Lega, tritt wiederum unter dem Motto »Italiener zuerst!« für eine rigide Abschottungspolitik ein.

 

In Frankreich war die Vorsitzende des damaligen Front National (mittlerweile Rassemblement National), Marine Le Pen, im vergangenen Jahr mit dem Versprechen in den Präsidentschaftswahlkampf gezogen, die Rente mit 60 wiedereinzuführen, die Reform des Arbeitsrechts rückgängig zu machen und die 35-Stunden-Woche beizubehalten. Die Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung wollte sie streichen, die ärztliche Versorgung auf dem Land hingegen verbessern.

Gemeinsam ist all jenen Plänen und sozialpolitischen Maßnahmen ein Grundgedanke: Die nationalistischen Parteien wollen die Leistungen des ­Sozialstaats exklusiv oder zumindest vorrangig den eigenen Staatsbürgern vorbehalten.

Diese Form des Wohlfahrtsnationalismus hat auch in Skandinavien rechtspopulistischen Parteien großen Auftrieb gegeben. Im Gegensatz zu ­anderen, vor allem osteuropäischen Ländern hat der Wohlfahrtsstaat eine lange Tradition in Skandinavien und wird – bei aller Kritik – auch nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Die Programme der norwegischen Fortschrittspartei, der Schwedendemokraten oder der dänischen Volkspartei beschreiben den Wohlfahrtsstaat vielmehr als Ins­titution, die die sogenannte nationale Identität konstituiere und somit den Einwohnern des Landes vorbehalten sein sollte. Entsprechend warnen diese Parteien vor der Bedrohung, die die Migration angeblich für den Wohlfahrtsstaat darstelle.

Nur wer zum nationalen Kollektiv gehört, soll auch Leistungen erhalten. Alle anderen müssen ausgeschlossen werden oder zumindest deutliche Benachteiligung erfahren. War früher mit dem Erhalt von Sozialleistungen häufig eine gesellschaftliche Stigma­tisierung verbunden, wird die Berechtigung dazu nun zum Ausweis dafür, ob man zum nationalen Kollektiv gehört oder nicht. Dabei ist es mehr als evident, dass in vielen europäischen Ländern ganze Branchen wie Gesundheit oder Pflege ohne Arbeitsmigranten gar nicht mehr funktionieren würden.

Es ist symbolträchtig, dass die österreichische EU-Ratspräsidentschaft kurz nach Amtsantritt im Juli mit einer Debatte über die Renationalisierung des Sozialstaats beginnt. Denn grundsätzlich sind die Pläne der österreichischen Regierung nicht mit der europäischen Integration vereinbar. Gemäß ­einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs von 2012 haben EU-Ausländer für die Dauer ihres Aufenthalts Anspruch auf Kindergeld, auch wenn der Nachwuchs in einem anderen Land lebt.

Noch dieses Jahr soll der Gesetzentwurf zur Neuregelung des Kindergelds im österreichischen Parlament verabschiedet werden und zu Beginn 2019 in Kraft treten. Dann droht der Regierung in Österreich ein EU-Vertragsverletzungsverfahren. Gut möglich, dass sie dann Unterstützung von der deutschen Bundesregierung erhält.