ქვეყნის შიგნით - Armut, Arbeitslosigkeit und private Verschuldung prägen das Leben vieler Georgierinnen und Georgier

Was hat sie bloß so ruiniert

Nach dem Ende der Sowjetunion wurde Georgien fast vollständig de­industrialisiert. Mit den wirtschaftlichen und sozialen Folgen kämpft das Land noch heute.

Wenn der 30jährige Tato Khundadze zu seinen Eltern nach Gurien in Westge­orgien fährt, fragt er seine ehemaligen Mitschüler oft, was sie gerade machen. Einige von ihnen arbeiten zurzeit als Saisonarbeiter in der Türkei. »Der Rest hängt rum und raucht Marihuana«, sagt er. Khundadze lehrt Politische Ökonomie an der Georgian American University in Tiflis. Skeptisch äußert er sich über den von der Regierung verkündeten Anstieg der Beschäftigungszahlen. Nach Angaben der nationalen Statistikbehörde Geostat beträgt die Arbeits­losigkeit in Georgien nur 13,9 Prozent. Doch die Zählweise der Behörde ­verschleiere die tatsächliche Lage, sagt Khun­dadze.

Die neuen politischen Entscheidungs­träger haben sich nach dem Ende der Sowjetunion schnell bereichert.

Der aktuellen Statistik zufolge sind etwa 880 000 Bürger selbständig. Dabei handelt es sich aber vor allem um Menschen, die kleine Stücke Land bewirtschaften, oder um mithelfende Familienangehörige beziehungsweise Straßenverkäufer. Sie alle betrachtet die Behörde nicht als Arbeitslose, obwohl sie kein oder kaum Geld verdienen. Experten gehen daher vielmehr von einer tatsächlichen Arbeitslosenquote von 30 bis 40 Prozent aus. Viele Georgier verdingen sich als Saisonarbeiter im Ausland oder nehmen private Kredite auf, die sie häufig nicht zurückzahlen können. Etwa 630 000 Menschen stehen derzeit auf einer schwarzen Liste der Banken, weil sie ihren Kreditverpflichtungen nicht nachkommen können.

Wenn man über die neu gebaute Autobahn von Tiflis in die ehemalige Hochburg der georgischen Schwerindustrie Rustawi fährt, gelangt man über einen langen geraden Boulevard an den Fluss Kura. An der vierspurigen Straße reiht sich ein Plattenbau an den nächsten. Von den riesigen Wohnblocks bröckelt längst die Farbe, an einigen Stellen fällt der Putz ab. Rustawi wird nicht umsonst als die sowjetischste Stadt Georgiens bezeichnet. 1944 wurde sie auf Wunsch von Josef Stalin am Reißbrett konzipiert und als Vorzeigestadt für die sowjetische Industriali­sierung erbaut. 1944 bis 1948 wurde dort das größte Stahlwerk der Kaukasus-­Region errichtet.

Auf der anderen Seite der Kura erstreckt sich die zur gleichen Zeit erbaute Prachtstraße der Stadt. Die Pläne für diesen Teil stammten von deutschen Architekten und Stadtplanern, die in ­einem Kriegsgefangenenlager in Rustawi untergebracht waren.
Im Zentrum des Vorzeigeteils der Stadt liegt das Rathaus mit einem riesigen Vorplatz. Rund um den Platz säumen Grünanlagen die Straßen. Es gibt einige Geschäfte, Cafés und ein kleines Museum. Ein paar Blocks entfernt befindet sich der inzwischen völlig entkernte und stillgelegte Bahnhof der Stadt. Vom großen Platz aus sieht man in der Ferne die Schlote der alten Industrieanlagen in den Himmel ragen. Georgiens ehemals größter Industriestandort beherbergte einmal 118 Betriebe. Zu den wichtigsten Unternehmen der Stadt zählten die Eisen- und Stahlwerke sowie die Chemie-, die Zement- und die Kranfabrik. Die Schwerindustrie hatte einen Anteil von 53 Prozent an der Wirtschaft. Im hinteren Teil der Stadt ist von dieser einst florierenden Industrie nicht mehr viel zu sehen. Am Rande ­einer staubigen, schnurgeraden Straße stehen die Ruinen der gigantischen ­Industrieanlagen. Hinter halb eingestürzten Mauern und löchrigen Zäunen befinden sich die alten Kräne und Hochöfen. Die Staubstraße zieht sich kilometerweit durch die Landschaft. Irgendwann hört die Straße auf. So wie in Rustawi sieht es mittlerweile an den meisten ehemaligen Industriestand­orten Georgiens aus. Die Betriebe sind entweder veraltet, stillgelegt oder kaputt.

Deindustrialisierung ab 1991

Als die Sowjetunion Anfang der neunziger Jahre zerfiel, wurden die 15 frü­heren Sozialistischen Sowjetrepubliken, aus denen sich die UdSSR zusammensetzte, selbständig. Nach einem Referendum erklärte sich Georgien am 9. April 1991 für unabhängig und erlebte daraufhin eine fast vollständige Deindustria­lisierung. Fabriken, die Stahl, Textilien, Fahrzeuge oder chemische Produkte herstellten, wurden praktisch über Nacht geschlossen. Übrig blieben Industrieruinen und eine Arbeitslosigkeit von 68 Prozent. In Rustawi überstanden nur drei von 118 Betrieben den wirtschaft­lichen Umbruch. Trotzdem ist Rustawi ein industrielles Zentrum geblieben. Größter Betrieb sind noch heute die Eisen- und Stahlwerke Rustawi. Das Staatsunternehmen produzierte bis zur Privatisierung im Oktober 2005 jährlich mehrere Millionen Tonnen gewalzten Stahls, vor allem Rohre, für die Förderung und den Transport von Öl und Gas. Nach eigenen Angaben beschäftigen die Stahlwerke zurzeit noch 1 300 Arbeiter.

Doch der Zusammenbruch des planwirtschaftlichen Binnenmarkts wirkte sich nicht nur auf die Industrie aus. Auch die Landwirtschaft veränderte sich drastisch. Nach der Privatisierung der Staatsbetriebe bewirtschafteten etwa eine Million Kleinbauern die Flächen, die Bauern verfügten aber jeweils nur über weniger als ein Hektar Land. Sie wandten sich der Subsistenzproduk­tion zu und bauten hauptsächlich ­Weizen, Mais und Kartoffeln an.

In Folge des als Privatisierung bezeichneten Nepotismus nach Ende der Sowjetunion ist die georgische Gesellschaft seit der Unabhängigkeit des Landes ökonomisch von extremer Ungleichheit geprägt.

Die georgische Wirtschaftspolitik war seither weder in der Lage noch willens, die Produktion zu diversifizieren oder die wirtschaftlichen Probleme des ­Landes zu lösen. Die Nationalisten unter Präsident Swiad Gamsachurdia übernahmen nach der Unabhängigkeit Georgiens die Macht im Land. »Gamsachurdia hatte nicht die geringste Ahnung von Wirtschaft und keine Ahnung davon, wie man ein Land regiert«, sagt Tato Khundadze. Das von Gamsachurdia verhängte Wirtschaftsembargo gegen Russland sei Ausdruck seiner »infantilen Vorstellungen« von der wirtschaftlichen Realität gewesen. Eine riesige Fabrikanlage zu betreiben, brauche langfristige Planung. Das habe den neuen politischen Entscheidungsträgern nicht besonders gelegen, stattdessen hätten sie sich lieber schnell be­reichert, indem sie die alten Industrieanlagen als Schrottmetall verkauften und damit Hunderttausende von Arbeitsplätzen zerstörten. Diese Wirtschaftspolitik sei durch die neoliberale Wirtschaftsideologie legitimiert worden, die eine schnelle Privatisierung der ehemaligen Staatsbetriebe gepredigt habe. Das Resultat sei eine spezielle Form von »Privatisierung«, die sich als besonders lukrativ für die aus ihr hervorgehenden georgischen Oligarchen erwiesen habe, beschreibt Khundadze den Prozess der Deindustrialisierung.