ჯუნგლები - Literarischer Aufbruch der Frauen

Wirbelsturm im Birnenfeld

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Es schmerzt, von den Gewalterfahrungen der Internatsbewohner, zum Großteil Waisen oder von ihren Eltern dort abgegebene Kinder, zu ­lesen. Wer Bücher anderer georgischer Autoren wie zum Beispiel Nino ­Haratischwilis »Das achte Leben« gelesen hat, mag auf drastische Gewaltszenen gefasst sein. Solches Vorwissen nimmt den Geschehnissen hier jedoch nichts von ihrer Brutalität, vor allem nicht, wenn man die Hoffnungslosigkeit und Ausweglosigkeit bedenkt, der die Kinder in dieser Einrichtung ausgeliefert sind. Symbolhaft hierfür steht der Titel des Buches. Das titelgebende Birnenfeld befindet sich bis heute auf dem Schulgelände. Tatsächlich ist es nur ein kleiner Wiesenabschnitt mit ­einigen wenigen Bäumen, an den sich Ekvtimishvili aus ihrer Kind­heit jedoch als großes Areal erinnert. Im Buch klingt seine Beschreibung mystisch an, denn der Humus ist moorartig feucht und dadurch auch gefährlich: Man kann darin versinken und von den verschlungenen Wurzeln gefangen werden. Die »knorrigen, warzenbedeckten Stämme«, die steinharten Früchte mit wässrigem Geschmack stehen für die Verlassenheit der Bewohner. Wie sich jahrzehntelang niemand um das Wasser auf dem Feld kümmert, so hat sich in der Zeit nach dem Ende der Sowjetunion auch lange niemand um die Kinder gekümmert.

Sie sind Opfer und Täter zugleich, denn neben »normalen« Piesackereien und Streiten gibt es auch Vergewaltigen untereinander. So werden weibliche Neuankömmlinge von einer Gruppe einem Jungen dargeboten; weint und schreit das Mädchen, wird ihr der Mund zugehalten. Ein Entrinnen gibt es nicht. Auch der Geschichtslehrer fängt die jungen ­Mädchen ab, führt sie ins Klassenzimmer oder die Umkleidekabine. Die etwas Älteren lassen sich nicht selten von Geschenken und Versprechen verlocken und prostituieren sich in der Nachbarschaft. Die Direktorin des Internats weiß davon. Ihrer Meinung nach könne man den jugendlichen Mädchen aber nicht verbieten, rauszugehen. Außerdem wollten sie es doch selbst, oder etwa nicht? »Sie sind keine Kinder mehr, sie sind neugierig …«

Lela, die Hauptperson des Romans, die selbst als Kind Opfer des Geschichtslehrers wurde, wohnt schon fast seit sie denken kann in diesem Internat. Sie weiß nicht, wer ihre Eltern sind. Sie ist eine der jungen Frauen, deren einziges Zuhause die Kertsch-Straße ist. Nach dem Schulabschluss lebt sie weiterhin dort und arbeitet, inzwischen volljährig, als Wärterin am Tor. Für einige der Kinder entpuppt sie sich als Beschützerin und Seelsorgerin, die zwar ­Gewalt nicht verhindern, aber immerhin die Augen ihrer kleinen Freunde zum Leuchten bringen kann, wenn sie sie zum Beispiel dazu anstiftet, die ersehnten Kirschen aus Nachbars Garten zu stibitzen.

Lelas Stärke und Gutherzigkeit bieten den Kindern einen großen Trost in der Plattenbauwüste der Verlassenheit. Sie setzt ihr etwas Menschliches entgegen. Denn nicht zuletzt macht der Roman deutlich, dass Andersartigkeit in der konservativen georgischen Gesellschaft lange Zeit nicht akzeptiert war und ihr mit diskriminierendem, teils rassistischem Verhalten begegnet wurde. Menschen mit Behinderungen sind auch heute auf den Straßen von Tif­lis kaum zu finden. Verwunderlich ist es in Anbetracht der Haltung während der Besatzungszeit nicht. »In der Sowjetunion war der einzelne Mensch sowieso nicht der wichtigste Baustein der Gesellschaft. Das Schicksal dieser Kinder war allerdings noch schwieriger, weil sie nicht als nor­male Menschen angesehen wurden«, führt Ekvtimishvili aus. Und auch wenn die Toleranz in der Bevölkerung langsam wächst, gibt es kaum Maßnahmen, um Behinderte in das öffentliche Leben zu integrieren. Die ber­gige Landschaft, die steilen und engen Straßenschluchten, die vielen Treppen, Unterführungen und Rolltreppen in Tiflis machen es kaum möglich, sich mit einem Rollstuhl selbständig fortzubewegen. Das Konzept Barrie­refreiheit scheint bisher nicht angekommen zu sein.

Von der Erfahrung, dass Anders­artigkeit bis zum heutigen Tag mit Diskriminierung begegnet wird, berichtet auch Tamar Tandaschwili beim Gespräch in ihrem Büro im Tifliser »Terminal«. Sie nahm am 17. Mai 2013 an der Kundgebung zum »Internationalen Tag gegen Homophobie und Transphobie« in Tiflis teil, die von orthodoxen Geistlichen und Rechtsextremen attackiert wurde. Der trainierten Halbmarathonläuferin gelang es jedoch, die Demonstration unversehrt zu verlassen.

Nach diesem Ereignis sei eine Leiterin einer LGBT-Organisation auf sie zugekommen und habe gefragt, ob sie für ein paar Monate bereit wäre, als Psychotherapeutin für sie zu arbeiten. Es fehle an Psychologen, die in Bezug auf sexuelle Orientierung und Geschlecht unvoreingenommen wären. Die Psychologin war erst kurz zuvor nach fast drei Jahren Studium in den USA nach Georgien zurückgekehrt und eigentlich damit beschäftigt, ihre Dissertation zu schrei­ben. Sie zögerte jedoch nicht lange und nahm das Angebot an. Das ist nun bereits sechs Jahre her – sie arbeitet bis heute für die Orga­nisation. Viele ihrer Patienten, nicht nur LGBT-Personen, sondern auch viele Heterosexuelle, sind als Kinder psychisch oder sexuell misshandelt worden. »Dass Misshandlungen strukturell eine so große Rolle spielten, machte mich sehr wütend. Ich musste etwas finden, um mit diesem ­Ärger umzugehen. Doch das Etwas fand mich.«

Sie habe zu schreiben begonnen, zuerst in Pausen und als Ablenkung während der Arbeit an ihrer Disser­tation. Sie habe sich eine halbe Stunde täglich dafür genehmigen wollen, doch drei Tage später noch immer an dem Manuskript gearbeitet. Nun ist es unter dem Titel »Löwenzahnwirbelsturm in Orange« auch auf Deutsch als Buch erschienen.

Unfällen, Selbstmord und Vergewaltigungen stellt Tandaschwili Liebe und Zuneigung gegenüber, nicht zuletzt die Fürsorge für einen ange­fahrenen Straßenhund. Der Roman reiht verschiedene Szenen aneinander, kleine Inseln, die alle im selben georgischen Meer zu verorten sind und Einblicke in gesellschaftliche Probleme geben. Verknüpft werden dunkle Themen, Fragen rund um persönliche Identität und Sexualität, Religion, Patriarchat mit Liebespoesie, Träume über Gleichberechtigung und alternative Zukunftsvisionen. Ohne einem klassischen Erzählmuster zu folgen, springen die Phanta­sien in Zeit und Raum, stehen mitten im Leben oder führen bis ins Totenreich. Alle fiktiven Charaktere leben im Kopf der erzählenden Person; von hier aus erklingen ihre mannigfaltigen Stimmen. Die verschiedenen Eindrücke und Einfälle unternehmen synapsenhafte Sprünge, ohne ins Chaos abzudriften. Es entsteht ein Mosaik an Wahrnehmungen, Erin­nerungen und Möglichkeiten, das sich wie eine Gedichtsammlung immer wieder neu lesen lässt.

Die im Roman verwobenen Schicksale basieren auf Erfahrungen der 1973 geborenen Autorin aus ihrer Arbeit als Psychologin und Therapeutin. Seit der Veröffentlichung des Buches sind viele neue Patienten zu ihr gekommen, die sich von der Lektüre angesprochen fühlten, sich beraten lassen oder eine Therapie machen wollten.

Grundsätzlich ist es Tamar Tandaschwili ein Anliegen, Therapien allen  Bevölkerungsschichten zugänglich zu machen. Deswegen arbeitet sie seit geraumer Zeit an einem umfassenden Beratungs- und Fortbildungskonzept für verschiedene Altersstufen, in Zusammenarbeit mit einer der größten Bildungsorganisationen in der Kaukasusregion, dem Center
for Training and Consultancy. Dieses Zentrum arbeitet unter anderem mit Regierungen, NGOs und Schulen zusammen. »Ich bin sehr optimistisch, dass wir mittels der umfassenden Vernetzung der Organisation eine breite Masse erreichen können.« Besonders wichtig ist Tandaschwili die Präventionsarbeit. In einem Modul werden beispielweise junge ­Mädchen darüber aufgeklärt, wie sie sich selbst gegen psychische und physische Gewalt schützen können. Dazu gehören etwa das Wissen über die Verbreitung von KO-Tropfen in Clubs, Notfallnummern im Geld­beutel, Notfallgeld in der Hosentasche und Antworten auf die Fragen: Wie verhindert man es, gemobbt zu werden? Wie schützt man sich vor dem Kontakt mit einer narzisstischen Persönlichkeit? Wie erkennt man Fake-Profile in sozialen Netzwerken?

Diese Fragen müssen sich nicht nur Menschen in Georgien beantworten. Jenseits von Coaching oder Therapie darf man auch ein bisschen auf die heilende Kraft der Literatur hoffen. Beide Autorinnen sind Mitte Oktober im Frankfurter Messezentrum zu finden. Auf der Buchmesse werden sie ihre Debüts vorstellen – Georgien ist als Ehrengast eingeladen.
Nana Ekvtimishvili: Das Birnenfeld. Aus dem Georgischen von Julia Dengg und Ekaterine Teti. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2018, 221 Seiten, 16,95 Euro

 

Tamar Tandaschwili: Löwenzahnwirbelsturm in Orange. Aus dem Georgischen von Natia Mikeladse-Bachsoliani. ­Residenz-Verlag, Salzburg 2018, 136 Seiten, 18 Euro