Stefan Meining, Historiker, im Gespräch über die Entstehung der ersten Organisationen des politischen Islam in Deutschland

»Ungestört und unbeobachtet«

Der Historiker Stefan Meining hat recherchiert, wie aus der Zusammenarbeit von antisowjetischen Muslimen und Nazis nach dem Zweiten Weltkrieg in München die erste Organisation des politischen Islam im Westen entstanden ist.
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In Ihrer Studie »Eine Moschee in Deutschland« haben Sie die Geschichte muslimischer Organisationen in Deutschland untersucht. Wie hat sich der Islam in Deutschland etabliert?
Am wichtigsten ist hier natürlich die Zuwanderung von Muslimen vom Balkan, aus der Türkei und dem arabischen Raum in den sechziger Jahren – als sogenannte Gast­arbeiter oder auch als Studenten. Dazu kommen aber auch die Muslime, die in der Folge des Zweiten Weltkrieges nach Deutschland gelangen konnten. Zahlenmäßig war das jedoch ein weitaus geringerer Teil. Vor allem in den letzten Jahren des Krieges hatten die Wehrmacht und später auch die SS teilweise erfolgreich versucht, Muslime anzuwerben. Wie viele Männer sich den Deutschen anschlossen, ist jedoch bis heute ungeklärt. Aus den un­terschiedlichsten Gründen gelang es einer kleine Gruppe dieser »Veteranen«, nach dem Krieg in den westlichen Besatzungszonen zu bleiben, zu heiraten oder irgendwie auf Dauer Fuß zu fassen. Verlässliche An­gaben zur Größe dieser damaligen muslimischen Bevölkerung gibt es nicht. In jedem Fall stellten die Muslime eine beinahe unsichtbar kleine Gruppe dar. So registrierte das Bundesamt für Statistik für die gesamte Bundesrepublik 1952 gerade einmal 115 Ägypter, 959 Iraner und 1 103 Türken.

Gab es eine ähnliche Situation auch in der sowjetischen Besatzungszone?
Nein, dort lassen sich keine Spuren der »Freiwilligenbewegung« nachweisen. Aus einem einfachen Grund: In der UdSSR galten die Muslime, die auf deutscher Seite gekämpft hatten, als Fahnenflüchtige und damit als Verräter, denen Tod oder Gulag drohte. Auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 hatten US-Präsident Franklin D. Roosevelt, der britische Premierminister Sir Winston Churchill und Josef Stalin beschlossen, alle Staatsbürger in ihre Heimatländer zurückzubringen.

Für die USA und Großbritannien bedeutete das Abkommen von Jalta die Repatriierung ihrer eigenen Kriegsgefangenen, die sich nun im Machtbereich der immer schneller vorrückenden Roten Armee befanden. Stalin hatte die Zusicherung erhalten, die sowjetischen Staatsbürger zurückzubekommen – inklusive der »Verräter«. Aus diesem Grund versuchten viele der muslimischen SS- und Wehrmachtssoldaten, in Richtung Bayern zu gelangen. Dort wurden etliche von ihnen von der US-Armee aufgegriffen und in großen Sammellagern in bayerischen Städten wie Regensburg, Plattling oder Ebersberg festgehalten. Für den 8. Mai 1945 zählte die United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) 9 620 000 displaced persons auf dem Reichsgebiet, darunter überlebende Juden, freigelassene Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge aus ganz Europa – und ehemalige NS-Freiwillige aus der Sowjetunion.

Wie vielen muslimischen SS- und Wehrmachtssoldaten gelang es denn, in den westlichen Be­satzungszonen zu bleiben?
Auch hierzu gibt es keine verlässlichen Zahlen. Am 8. Mai hatten sich die Streitkräfte der USA und der UdSSR auf eine zügige Abwicklung der Repatriierungen geeinigt. Da Staatenlose mit türkischem Geburtsort nicht unter das alliierte Repatriierungsabkommen fielen, behaupteten Angehörige von Turkvölkern nicht selten, in der Türkei geboren zu sein. So konnten sie einer Rückführung in die Sowjetunion entgehen. Zudem stellten türkische Studentenvereine, die es trotz des Krieges an den deutschen Universitäten gab, den Freiwilligen kurzerhand Mitgliedsausweise zur Verfügung, die einen Geburtsort in der Türkei angaben, was den Alliierten als Herkunftsnachweis genügte.

Ende März 1946 zählte die UNRRA nur noch 758 000 displaced persons, Tendenz abnehmend. Nicht zuletzt deshalb stellten die Briten und Amerikaner die Repatriierungen noch im selben Jahr still und heimlich ein. Wer sich bis zu diesem Zeitpunkt den Rückführungen hatte entziehen können, durfte bleiben. Zentral für das Fußfassen der muslimischen SS- und Wehrmachtssoldaten in der BRD waren auch ihre guten Beziehungen zu früheren militärischen Vorgesetzten oder Betreuern aus dem NS-Ministerium für die besetzten Gebiete im Osten.

Welche Namen sind hier wichtig?
Besonders wichtig sind hier der ehemalige Wehrmachtsoffizier Professor Theodor Oberländer und der hohe NS-Beamte Professor Gerhard von Mende. Beide waren auf das Engste mit der NS-Freiwilligenbewegung im Zweiten Weltkrieg verwoben. Von Mende und auch Oberländer waren Akademiker, die sich vor dem Krieg »wissenschaftlich« mit den sogenannten Ostvölkern aus­einandergesetzt hatten und dabei durchaus Sympathien für diese Menschen empfanden. Ihre Zuneigung wurde später auch von ihren Untergebenen als authentisch aufgefasst und dankbar erwidert. In der Bundesrepublik machten beide erneut Karriere und kümmerten sich aus persönlichen wie auch aus politischen Gründen um ihre ehemaligen Untergebenen oder Schützlinge.

»Nach und nach verließen auch die deutschen Akteure wie Theodor Oberländer, der 1960 zurücktrat, die politische Bühne. Ungestört und unbeobachtet konnten Said Ramadan, der die Leitung des Moschee­-bauprojektes übernahm, und seine Nachfolger dann ihre Netzwerke ausbauen.«

Wie passte diese Haltung zur ­NS-»Rassenpolitik«?
Politisch waren Männer wie von Mende und Oberländer durchaus auch pragmatisch denkende Nationalisten: Nichtrussische Minder­heiten wollten sie als Waffe gegen die UdSSR beziehungsweise Russland einsetzen. Gegen die anfangs völlig siegestrunkenen »Rassen­politiker«, die in der gesamten nichtdeutschen Bevölkerung des »Ost­raumes« lediglich »Untermenschen« sahen, konnten sie sich lange Zeit nicht durchsetzen.

Der Antisemitismus gehört ebenfalls zu von Mendes politischer Biographie. In seinem 1938 erschienenen Buch »Die Völker der Sowjetunion« schreibt er etwa, dass Juden »für sich selbst außer einem blut­mäßig bedingten kliquenhaften Helfershelfertum alle Bindungen ­verneinen« würden und »in einem Machtanspruch und einer Macht­ausübung ohnegleichen jeden gewachsenen Zusammenhalt, vor allem jede völkische Einheit (…) zersetzten und schädigten«. Als hochrangiger Beamter im Ost-Ministerium war von Mende, der Spezialist für »Volks- und Nationalitätenkunde der Sowjetasiatischen Völker«, zudem Teil des Apparates, der die Vernichtung der europäischen Juden plante und durchführte. So nahm er im Januar 1942 an einem Nachfolgetreffen der Wannsee-Konferenz im Ost-Ministerium teil, auf der es um die bürokratischen Bestimmung für den Begriff »Jude« in den besetzten Ge­bieten der Sowjetunion ging. Laut Sitzungsprotokoll saß von Mende stumm am Konferenztisch, doch ihm muss klar gewesen sein, dass die Ermordung der osteuropäischen Juden beschlossene Sache war.

Auch nach 1945 war von Mende ein gefragter Mann.
Allerdings. Für den polyglotten Professor bildete die Zusammenarbeit mit den NS-Freiwilligen aus der Sowjetunion eine Lebensaufgabe, die nicht bei Büroschluss endete. Das zeigt sich etwa im Fall der »Religionsgemeinschaft Islam«. Diese hatte Ibrahim Gacaoglu, ein ehemaliger Verbindungoffizier einer Freiwilligenbrigade der Wehrmacht, zusammen mit anderen ehemaligen muslimischen NS-Freiwilligen 1953 in München gegründet. Das war der erste registrierte islamische Verein im Nachkriegsdeutschland. Mit schätzungsweise 300 Mitgliedern blieb die Anhängerschaft der Gemeinde überschaubar. Die Bayerische Staatsregierung war übrigens mit dem biographischen Hintergrund der Mitglieder vertraut. Vermerke, Notizen und Briefe bezeugen jedoch ein geringes Interesse deutscher Behörden an den Muslimen, die vor allem als »heimatlose Ausländer« galten.

Anders auf amerikanischer Seite: Je stärker der Kalte Krieg entbrannte, desto mehr interessierten sich die USA für die displaced persons aus der Sowjetunion – so auch in München, dem Zentrum der Emigration aus der UdSSR. Dort waren mit »Radio Free Europe« und »Radio Liberation« zwei bedeutende Radiosender für antikommunistische Propaganda beheimatet. Für den weiteren Verlauf der Geschichte des Islam in Deutschland spielte »Radio Free Europe« keine Rolle. Das Zielpublikum von »Radio Liberation« hingegen waren die Völker der Sowjetunion – und hierfür wollte dessen Betreiber, das »Amerikanische Komitee für die Befreiung vom Bolschewismus« (Amcomlib), auch Emigrantengruppen einbinden. Das Amcomlib fing an, mit von Mende und mit Gacaoglu zusammenzuarbeiten.

Worin bestand diese Zusammenarbeit?
Aus Enttäuschung über die mangelnde für Unterstützung seinen Islamverein sah sich Gacaoglu nach neuen Sponsoren um. Mit dem Amcomlib entwickelte sich eine Zusammenarbeit: Amcomlib unterstützte die arme Gemeinde finanziell, die im Gegenzug kritisch die Nationalitäten- und Islampolitik der Sowjetunion aufgriff – mit dem Vorteil, dass eine von Muslimen selbst vorgebrachte Kritik an der UdSSR natürlich viel glaubwürdiger erschien. Als Ankläger der Sowjetunion bei »Radio Libera­tion« trat jedoch nicht der Gemeindevorsitzende Gacaoglu in Erscheinung, sondern Garip Sultan, ein entfernter Verwandter von Mendes, der ebenfalls der muslimischen NS-Freiwilligenbewegung aus der Sow­jetunion entstammte.

Ab 1953 arbeitete Sultan für »Radio Liberation« – den Posten hatte ihm sein Förderer von Mende verschafft. Sultan hatte nun die Aufgabe, unter dem Deckmantel der »Religionsgemeinschaft Islam« »amerikanische Ansichten« zu verbreiten. Die Muslime übten Kritik an der UdSSR, die Ideen, Informationen und die Finanzierung stammten von Amcomlib. Der Islam wurde damit zu einer Waffe im Kalten Krieg – im Westen wie im Osten, wo auch Stalin zum Beispiel linientreue Großmuftis installierte und ausgewählten Pilgern den Besuch der Heiligen Stätten des Islam gestattete.