Die Fertigstellung des neuen Großflughafens in Istanbul ist ein Prestigeprojekt des türkischen Präsidenten, streikende Arbeiter stören da nur

Technofest ohne Arbeiter

Bis Ende Oktober soll in Istanbul ein neuer Großflughafen fertiggestellt werden. Die Arbeitsbedingungen auf der Baustelle sind katastrophal. Für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan hat das geplante Eröffnungsdatum hohen symbolischen Wert, gegen streikende Arbeiter geht die Regierung rabiat vor.

Die Gendarmen kamen um drei Uhr früh am vorvergangenen Samstag. Sie brachen die Schlafräume auf und nahmen nach vorbereiteten Listen über 400 Arbeiter fest, die zuvor in den Streik getreten waren. Am nächsten Tag weigerte sich niemand mehr zu arbeiten und der Gouverneur lobte den Frieden auf der größten Baustelle der Türkei. Dabei gab es und gibt es mehr als einen Grund zu streiken für die 45 000 Arbeiter auf der Baustelle von Istanbuls drittem Flughafen. Es herrscht eine unglaubliche Arbeitshetze.

Arbeiter berichten davon, dass sie mittlerweile bis zu 16 Stunden am Tag arbeiten müssten. Solche Arbeitszeiten bestätigt auch der Abgeordnete Ali Şeker von der sozialdemokratisch-kemalistischen Partei CHP. Gearbeitet werde selbst an Feiertagen.

Im Frühjahr berichtete die Zeitung Cumhuriyet, gestützt auf Aussagen eines Arbeiters, von bislang 400 tödlichen Unfällen auf der Baustelle. Die Familien der Gestorbenen bekämen eine Abfindung, quasi als Schweigegeld. Das Arbeitsministerium dementierte den Bericht, räumte aber 27 Todesfälle auf der Baustelle ein. Gewerkschafter sprachen dagegen von 35 Toten plus einer Dunkelziffer. Einzelfälle nachzuprüfen ist schwierig, weil viele Arbeiter aus den entlegensten Ecken Anatoliens kommen oder gar aus Aserbaidschan. Und so geht es mit den Arbeitsunfällen weiter. Von einem Todesfall pro Woche ist die Rede.

»Die Arbeiter fordern nichts anderes als die Einhaltung gesetzlicher Vorschriften.«
Kamber Saygılı, Gewerkschafter

Die Arbeiter erhalten etwas weniger als den gesetzlichen Mindestlohn, der umgerechnet etwas über 200 Euro liegt. Wenn überhaupt gezahlt wird – manche Arbeiter warten bereits seit sechs Monaten auf ihren Lohn, von der versprochenen Bezahlung für die Überstunden ganz zu schweigen. Sozialabgaben werden manchmal nicht abgeführt oder überhöht vom Lohn abgezogen. Die Arbeiter klagen über schlechte Behandlung, auch auf den Kranken­revieren. Die Unterbringung ist ein Graus. Waschräume werden nicht regelmäßig gereinigt. Es gibt kein warmes Wasser. Die Schlafräume sind von Bettwanzen befallen. Die Tiere, die auf Türkisch tahtakurusu heißen, sorgen für einigen Spott, denn das Wort klingt ähnlich wie taht kurucusu (in etwa: Throngründer), was sich auf Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seinen Palast in Ankara beziehen lässt.

Ein Unfall mit einem Shuttlebus am 14. September, bei dem 17 Arbeiter verletzt wurden, führte zu dem Streik, an dem sich Tausende Arbeiter beteiligten, die auch eine Liste von Forderungen präsentierten. Bereits am Morgen darauf endete der Streik mit den Massenfestnahmen. Doch die Staatsanwaltschaft ließ es nicht mit der Einschüchterung durch den Überfall der paramilitärischen Gendarmerie bewenden. 28 Festgenommene wurden dem Haftrichter vorgeführt, der gegen 24 von ihnen Untersuchungshaft verhängte. Gegen 19 weitere wird ebenfalls ermittelt. Inhaftiert wurde auch der Vorsitzende der Baugewerkschaft İnşaat-İş, Yunus Özgür.

Den Festgenommenen wirft die Staatsanwaltschaft vor, eine aktive Rolle beim Widerstand gespielt zu haben. Sie sollen Demonstrationen organisiert und Parolen gerufen, gegen Ordnungskräfte Widerstand geleistet und öffentlichem Eigentum »Schaden zugefügt« haben, wie es vage heißt.

Kamber Saygılı, der dem Vorstand des Gewerkschaftsverbands DİSK angehört und Vorsitzender der Gewerkschaft Limter-İş ist, meint, er habe eigentlich nichts dagegen, dass die Staatsanwaltschaft sich einmischt. Sie habe nur die Falschen festgenommen. »Die Arbeiter fordern nichts anderes als die Einhaltung gesetzlicher Vorschriften«, sagt Saygılı der Jungle World. Weil ihre Vorgesetzten sich weigerten, die Gesetze zu befolgen, müssten eigentlich sie verhaftet werden. Stattdessen werde aus einem Streik ein Sicherheitsvorfall gemacht.

Den Einwand, dass die Lage nach der Aufhebung des Ausnahmezustands, unter dem zwei Jahre lang Streiks verboten wurden, besser geworden sein müsse, lässt Saygılı nicht gelten. Es sei noch schlimmer geworden. Von Gesetzen werde schon gar nicht mehr gesprochen. Es heiße nicht mehr, dass etwas gegen ein Gesetz verstoße, so Saygılı, sondern der Vorwurf laute: »Sie machen nicht, was der Präsident sagt, sie machen nicht, was der Landrat sagt!« Was ein Polizeidirektor sage, sei schon Gesetz. Dass Menschen nur wegen der Beteiligung an einem Streik in Untersuchungshaft genommen werden, sei auch in der Türkei neu. Aber es gehe angesichts der ständigen Preiserhöhungen darum, die Menschen einzuschüchtern, um sozialen Unruhen vorzubeugen.

 

Dass vor allem ein Exempel statuiert werden soll, scheint plausibel. Schließlich rechnet die Regierung mittlerweile offiziell damit, dass die Inflationsrate bis Jahresende auf 20 Prozent steigt. Wegen schwindender Kaufkraft ist im Juni und Juli der Automarkt eingebrochen. Mittlerweile kaufen die Menschen in der Türkei auch kaum noch Schuhe. Eine Kette von über 100 Schuhgeschäften und ein renommierter Schuhproduzent mussten Gläubigerschutz beantragen. Doch das harte Vorgehen gegen die Streikenden erklärt sich nicht nur daraus. Der Bau des größten Flughafens der Welt hat für Erdoğan auch eine hohe symbolische Bedeutung.

Eine Woche nach der Niederschlagung des Streiks feierte der Präsident mit großem Pomp auf dem teilweise fertiggestellten Flughafen ein »Technofest«. Mehr angekündigt als vorgeführt wurde einheimische Technik, insbesondere Militärtechnologie. Erdoğan schwärmte von Panzern, Helikoptern, Drohnen und Raketen. Insgesamt sollen 600 Rüstungsprojekte in Arbeit sein. In seiner Rede beschwor der Präsident die Kraft der Träume: Wenn die Türken ihren Träumen gefolgt seien, hätten sie in der Geschichte fast immer gewonnen. Bei großen Vorhaben sei es aber auch klar, dass man sabotiert werde. Ein Hinweis auf die Wirtschaftskrise, die, wie der Präsident behauptet und seinen Landsleuten immer wieder einschärft, in Wirklichkeit nur Sabotage sei. Bis auf eine weitere Ermahnung Erdoğans, alle Geschäfte in Türkischer Lira abzuwickeln, musste dieser Hinweis auf die triste Gegenwart reichen.

Des Weiteren wetterte der Präsident gegen die »Verwestlichung«: »Die Jugendlichen, die wir in den Westen geschickt haben, damit sie Ingenieure werden, kehren mit verführtem Geist, vergiftet ins Land zurück.« Allerdings zeigen weder die ständigen Appelle, die Lira zu stützen, noch die Ermahnungen der Jugend viel Wirkung. Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Auswanderer um 42 Prozent gestiegen. Während früher Auswanderer hauptsächlich aus anatolischen Dörfern kamen, stammt derzeit die Mehrzahl aus den türkischen Metropolen; es sind die Jungen und gut Ausgebildeten, die das Land verlassen. Sie entsprechen im Alter und sozialen Profil denjenigen, die Erdoğan vor fünf Jahren bei den Gezi-Protesten getrotzt haben.

Arbeiter von der nahen Baustelle durften nicht auf das Technofest. Sie sollen schuften, damit Erdoğan wie ­geplant am 29. Oktober das Hauptterminal des neuen Flughafens eröffnen kann. Am selben Tag soll der nach Mustafa Kemal Atatürk benannte alte Flughafen seine Tore schließen. Das Datum, an dem Erdoğan eisern festhält, ist der 95. Jahrestag der Gründung der Türkischen Republik durch Atatürk, der auch deren erster Präsident war. Am Tag der Einweihung muss Erdoğan spätestens das Geheimnis lüften, wie der neue Großflughafen heißen wird. Sollte es der »Recep-Tayyip-Erdoğan-Flughafen« werden, wäre das ein symbolträchtiger Übergang von Atatürk zu Erdoğan. Auch wenn das Spekulation ist, hat der Termin eine hohe propagandistische Bedeutung und jeder Tag Streik gefährdet Erdoğans Symbolpolitik.

Landen will der Präsident auf dem neuen Flughafen übrigens in seinem neuen Flugzeug im Wert von rund 500 Millionen US-Dollar, das ihm der Emir von Katar geschenkt haben soll. Die Opposition vermutet hingegen, Erdoğan habe es mitten in der Wirtschaftskrise heimlich gekauft. Er fliegt nun in der gleichen Klasse wie US-­Präsident Donald Trump. Erdoğan hat noch zwei weitere große und neun kleinere Flugzeuge sowie drei Helikopter zu seiner Verfügung. Pläne für ein Sommerschlösschen am Meer mit 300 Zimmern und 65 Hektar Grundstück wurden gerade vorgestellt. Ein Staatsempfang erster Klasse in Berlin erwartet den Traum- und Schaumtänzer auch noch. Erdoğan dürfte es schwerfallen, sich in die Lage eines Bauar­beiters in einer verwanzten Unterkunft zu versetzen, selbst wenn er es wollte.