In Sachsen ist ein Mann wegen versuchten Mordes an einem Syrer verurteilt worden, ein rasstisches Motiv konnte das Gericht nicht erkennen

Mauer des Schweigens

Weil er einen syrischen Flüchtling im sächsischen Torgau mit Schüssen schwer verletzte, wurde Kenneth E. zu 13 Jahren Haft verurteilt. Trotz zahlreicher Indizien stuften Gericht und Ermittler die Tat nicht als rassistisch ein.

Er habe 17 Tage im Krankenhaus verbracht und leide immer noch an Schmerzen in der Brust, wenn er sich zu schnell bewege, sagte Fawad A.* auf Nachfrage des Leipziger Landgerichts im Mai. Seit ihn in der Nacht zum 7. Juli 2017 zwei Kugeln in die Brust trafen, habe er im Dunkeln Angst und gehe auch in seinem Wohnort in Nordrhein-Westfalen nicht mehr alleine auf die Straße. In jener Nacht war der 22jährige Student gerade gemeinsam mit zwei Cousins zu Besuch bei Esat A., einem weiteren Cousin, in Torgau. Die vier jungen Männer sind aus Syrien geflüchtet und leben in verschiedenen Teilen Deutschlands.

Vor Gericht berichtet Fawad A. von den Anfeindungen, die sie in der sächsischen Stadt erlebten, und vor allem von der nächtlichen Auseinandersetzung auf dem Marktplatz.

»Das Urteil ist gefallen, aber in Torgau dürfte sich dadurch kaum etwas geändert haben«, kommentiert Sandra Merth vom antifaschistischen Bündnis »Irgendwo in Deutschland«, das den Prozess begleitet hat. Der Mordversuch sei in der nordsächsischen Stadt weder in den sozialen Medien noch in der Lokalpresse Thema.

Von der Anklagebank guckt ihn Kenneth E. an, als hörte er das erste Mal von den Geschehnissen. Der bullige Mann scheint interessiert, aber un­beteiligt, als wäre er der Assistent seines Anwalts. Konzentriert blättert er in den Akten, macht sich Notizen und befragt später sogar selbst den Zeugen. Er spricht in sächsischem Dialekt, fokussiert seine Gesprächspartner, formuliert exakt. Selbst als Richter Hans Jagenlauf nach etwa einem Dutzend Prozesstagen das Urteil verkündet, wonach E. wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit Körperverletzung für 13 Jahre ins Gefängnis und anschließend mit Sicherungsverwahrung rechnen muss, zeigt er keine Regung. Zuvor hat er seine Unschuld beteuert und behauptet, ­geschlafen zu haben, als die Schüsse fielen.

Das Gericht sieht es dennoch als erwiesen an, dass Kenneth E. der Schütze war, der zu einer nächtlichen Ausein­andersetzung zwischen der Gruppe Syrer und vier Torgauern auf dem Marktplatz hinzutrat und unvermittelt zwei Schüsse mit einer modifizierten Schreckschusswaffe auf die Brust von Fawad A. abgab. Wegen einer ähnlichen Tat saß E. bereits 18 Jahre und fünf Monate im Gefängnis: Als Mitglied der Döbelner Rockergruppe »Highway Wolves« hatte er 1996 ebenfalls zwei Mal aus nächster Nähe geschossen und einen Komplizen getötet, von dem er gefürchtet hatte, er könnte »quatschen«. Im Clubheim der Rockergruppe hatten in den neunziger Jahren Rechtsrockkonzerte stattgefunden, in der Zelle von E. waren während seiner Haftzeit Bilder von Nazigrößen gefunden worden.

Nach den Schüssen auf die jungen Syrer fanden Beamte in seiner Wohnung Weinflaschen mit Abbildungen von Adolf Hitler und Erwin Rommel. Richter Jagenlauf verwies in seiner ­Urteilsbegründung auf Indizien für eine ausländerfeindliche Gesinnung des ­Täters, diese würden aber nicht ausreichen, um eine tatleitende rassistische Gesinnung festzustellen.

Als Auslöser für die nächtliche Konfrontation am Marktplatz gilt dem ­Gericht ein vorheriges Aufeinandertreffen der Syrer mit Torgauer Jugendlichen an einer Tankstelle. Auch hier soll es zu rassistischen Beschimpfungen und gegenseitigen Beleidigungen ­gekommen sein, die sich die Cousins nicht gefallen ließen: Einer der Tor­gauer wurde mit einem stumpfen Gegenstand am Kopf verletzt.

Der genaue Ablauf des Tages lässt sich aus den Zeugenaussagen im Prozess nur unvollständig rekonstruieren. Der Nebenklagevertreter Jasper Prigge spricht in seinem Plädoyer von einer »Mauer des Schweigens«, auf die man bei der Untersuchung der Tatgeschehnisse und der politischen Überzeugung des Angeklagten gestoßen sei.

Viele Zeugen und Zeuginnen wider­riefen im Laufe des Verfahrens ihre Aussagen oder mussten von der Polizei vorgeführt werden, da sie ihren Ladungen nicht nachkamen. Die Tatwaffe ist bisher nicht aufgetaucht, für Speku­lationen über deren Verbleib sorgt ein rätselhafter Einbruch in die Wohnung von Kenneth E., während dieser bereits in Untersuchungshaft saß.

Als entscheidend gilt deshalb die Aussage von Frauke N.*, die nach mehreren Nachfragen des Richters ihre vorherigen Angaben widerrief und danach ein überzeugendes Bild der nächtlichen Geschehnisse präsentierte. Sie beschrieb Kenneth E. als Waffennarr, der häufig mit Schuss­waffen hantierte und diese auch »zur Sicherheit« ihrer Gruppe mitführte, zu der auch Anton G. gehörte, der in die nächtliche Auseinandersetzung mit den Syrern verwickelt war und im Verlauf des Prozesses als der ­lokale Dealer von Crystal Meth erschien. In dessen Wohnung am Markt verbrachten die Zeugin und Kenneth E. den Abend, vor weiteren Anwesenden sei auch der Streit an der Tankstelle besprochen worden. Dabei hätten sich der Hausherr und Kenneth E. aufgeregt, dass einer ihrer Freunde von Ausländern beleidigt worden sei. »Viele von uns in Torgau haben etwas gegen Ausländer«, antwortete die Zeugin ausweichend auf die Nachfrage nach der politischen Überzeugung von Kenneth E. Wegen einer Drogenbestellung sei Anton G. in der Nacht auf den Markt gegangen. Als dort auch die jungen Männer aus Syrien auftauchten, sei es zu einer lautstarken Auseinandersetzung samt Schubserei gekommen, die E. und sie am Fenster der Wohnung verfolgt hätten. »Die schlagen Anton zusammen«, soll Kenneth E. ohne für sie erkennbaren Grund gesagt und dann eine kleine schwarze Pistole vom Fensterbrett genommen haben und auf den Markt gegangen sein.

Sascha U. gab unumwunden zu, sich nach dem Streit an der Tankstelle auf die Suche nach den Syrern gemacht zu haben. Er bezeichnete sie in seiner Zeugenaussage fortlaufend als »Kanaken«, die seinen Freund abgestochen hätten und mit denen er dasselbe habe machen wollen. Seine Suche verlief im Sande, sein Freund Jens R. hatte allerdings Erfolg. In SMS, die im Prozess verlesen wurden, schrieb er an Sascha U.:»Jetzt sind sie da, wo Resa gewohnt hat« und »Bin alleine gegen drei, mach mal hin bitte«. Als auf dem Marktplatz geschossen wurde, stand er laut eigener Aussage mit Anton G. in der ersten ­Reihe.

Sascha U. hatte die drei jungen Syrer auf ihrem Weg zum Markt bereits rassistisch beschimpft und mit dem Messer bedroht, als diese die Wohnung seiner Lebensgefährtin passierten. Sie pöbelten zurück und gingen weiter, er bewaffnete sich mit einem Knüppel und verließ das Haus mit weiteren Personen. Während Kenneth E. feuerte, standen sie wohl am Rande des Marktes. Als die »Ausländer« nach den Schüssen auf sie zugelaufen seien, habe er Angst gekriegt und ebenfalls seine Schreckschusspistole abgefeuert, gab der Nachbar Marco W. vor Gericht zu Protokoll. Für seine Aussage hatte sich der kräftige Glatzkopf ebenso wie sein Freund Dirk S. in rechte Szenekleidung gehüllt.

Die Polizei nahm in der Tatnacht die Personalien der Gruppe in der Straße auf, in die sich die jungen Syrer zurückgezogen hatten. Die Waffe gab Marco W. noch in der Tatnacht bei der ­Polizei ab. Wegen der »kooperativen Haltung« verzichteten die Torgauer ­Beamten auf Hausdurchsuchungen oder Schmauchspuranalysen bei den ­bewaffneten Männern – ein Rätsel bei Ermittlungen, in deren Verlauf ins­gesamt neun Wohnungen durchsucht wurden.

Das Verhalten der sächsischen Polizei sorgte bereits zu Prozessbeginn für Aufregung. Die Tat wurde bis zur Verfahrenseröffnung am Leipziger Land­gericht kaum in der Öffentlichkeit bekannt, da die Beamten dem Mord­versuch nicht einmal eine eigene Pressemitteilung gewidmet hatten. Statt­dessen hatten sie eine Sammelübersicht veröffentlicht unter dem Titel »Leip­ziger verfolgte Autodieb / Graffiti am Garagenhof / Verletzte Person nach Schüssen aufgefunden / Fahrradstaffel und Ordnungsamt kontrollierten«. Dort war kein mutmaßlicher rassistischer Hintergrund der Tat genannt worden, auch in den Akten wurde der Fall nicht als möglicherweise rechts­motiviert kategorisiert, wie aus der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Leipziger Landtagsabgeordneten Juliane Nagel (Linkspartei) hervorgeht. Auch die bei der Hausdurchsuchung gefundenen Nazidevotionalien änderten das nicht.

Sie stünden in keinem Zusammenhang mit der Tat, lautete die Einschätzung der Polizei. Damit fehlen die Torgauer Schüsse auch in Statistiken zu rechter Gewalt. »Das Leugnen und Vertuschen hört nicht auf. Weder Polizei noch Justiz haben aus dem Terror des NSU, der Gruppe Freital und zahlreicher anderer marodierender Neo­nazis gelernt«, sagt Nagel. »Wenn ein Neonazi und Rassist auf einen Geflüchteten schießt, muss ein rassistisches Tatmotiv bei den Ermittlungen und vor Gericht in den Hauptfokus rücken.«

»Das Urteil ist gefallen, aber in Torgau dürfte sich dadurch kaum etwas geändert haben«, kommentiert Sandra Merth vom antifaschistischen Bündnis »Irgendwo in Deutschland«, das den Prozess begleitet hat. Der Mordversuch sei in der nordsächsischen Stadt weder in den sozialen Medien noch in der Lokalpresse Thema.

Außer für den Verurteilten hätten die Vorgänge keine Folgen. »Es waren mehrere Bewaffnete in dieser Nacht unterwegs, da drängt sich die Vermutung einer Verbindung doch auf«, so Merth.

 

* Name von der Redaktion geändert.