Chantal Jaquet hat ein Buch über soziale Mobilität geschrieben

Märchenhafter Aufstieg

Unter welchen Bedingungen kann der soziale Aufstieg gelingen? In ihrem Buch »Zwischen den Klassen. Über die Nicht-Reproduktion sozialer Macht« beschäftigt sich die französische Soziologin Chantal Jaquet Gedanken mit den Voraussetzungen sozialer Mobilität.

Jack Londons autobiographisch geprägter Roman »Martin Eden« (1909) schildert die Karriere eines Mannes, der sich als Matrose verdingt und sich im Selbststudium zum angesehenen Schriftsteller hocharbeitet. Zufriedenheit aber stellt sich nicht ein: »Eine unerbittliche Logik trieb ihn zu dem Schluss, dass er nichts war. Der Tagedieb Martin und der Seemann Martin Eden waren wirkliche Menschen (…). Aber Martin Eden, der berühmte Schriftsteller, war Dampf, der im Pöbelhirn entstanden und vom Pöbelhirn in den Körper gepresst war.« Zitiert wird diese Passage in Chantal Jaquets Großessay »Zwischen den Klassen«, der sich mit den Schwierigkeiten des sozialen Aufstiegs befasst.

Menschen werden klassifiziert und ordnen sich selbst ein, sie hegen Vorstellungen über ihre Zugehörigkeit und die der anderen. Diese Vorstellungen sind zuweilen so wirkmächtig, dass sie wie ein Gerichtsbeschluss ohne Widerspruchsrecht aufgefasst werden: »Gesellschaft als Urteil« nannte Didier Eribon diesen Mechanismus.

Soziale Klassen sind nicht nur durch Produktions- und Eigentumsverhältnissen konstituiert. Sie sind auch imaginäre Gemeinschaften.

Menschen werden klassifiziert und ordnen sich selbst ein, sie hegen Vorstellungen über ihre Zugehörigkeit und die der anderen. Diese Vorstellungen sind zuweilen so wirkmächtig, dass sie wie ein Gerichtsbeschluss ohne Widerspruchsrecht aufgefasst werden: »Gesellschaft als Urteil« nannte Didier Eribon diesen Mechanismus. Allerdings folgt die Zugehörigkeit keinem Naturgesetz. Es handelt sich um Effekte sozialer Verhältnisse. Für linke Theoretiker ist es daher eine wichtige Frage, wie und wodurch die Verhältnisse dauerhaft etabliert und immer wieder erneuert, also reproduziert werden. Für Louis Althusser wurde die Reproduktion durch die ideologischen Staatsapparate gewährleistet, Pierre Bourdieu machte die Wechselwirkung von im Habitus verkörperten Gewohnheiten und dem symbolischen Gewinn in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen für die Reproduktion verantwortlich.

Weniger Beachtung dagegen findet in der linken Theorie die Frage, warum und unter welchen Bedingungen der Aufstieg gelingen kann.

Dem widmet sich die französische Soziologin Chantal Jaquet. Sie schreibt »über die Nicht-Reproduktion sozi­aler Macht« – so lautet auch der Untertitel ihres Buchs. Um zu zeigen, wie Klassenübergänge gelingen, bedient sie sich weniger empirischer Studien, sondern greift auf literarische Zeugnisse zurück. Ihr Anschauungsmaterial sind Romane von Klassenübergängern und -übergängerinnen. Der Begriff des »sozialen Aufstiegs« allerdings, merkt Jaquet an, sei irreführend, denn der Klassenübergang, sei »keineswegs gleichbedeutend mit Erhöhung oder systematischem Gewinn, sondern läuft fast immer auf einen Verlust hinaus«.

Dieser Verlust betrifft die Zugehörigkeit. Klassenübergänger machen also ähnliche Erfahrungen, wie sie in der Forschung für Migranten und Migrantinnen beschrieben werden – wobei sich Jaquet kaum auf die Migrationsforschung bezieht. Das Ankommen und Akzeptiertwerden ist schwer, aber ein Zurück gibt es nicht. Denn das Weggehen schafft eine Distinktion, die im Herkunfts­milieu nur selten geschätzt, in der Regel eher bestraft wird. Dennoch versuchen Menschen, den als leidvoll und beengt erfahrenen Milieus zu entkommen. Die entscheidende Frage ist dann, unter welchen Umständen diese Befreiung, also die Nicht-Reproduktion des vorgesehenen Lebensweges gelingt. Jaquet zeigt alternative Lebensmodelle, etwa das einer belesenen Lehrerin; sie betont welche ökonomischen Bedingungen günstig sind, etwa Eltern, die für die Bildung ihrer Kinder arbeiten, und zeigt die Bedeutung ­politischer Institutionen, etwa Stipendien. All dies reiche aber noch nicht aus, ebenfalls zu berücksichtigen sei die »Logik der Affekte« jedes und ­jeder Einzelnen. Liebe, Freundschaften und andere Begehrlichkeiten können demnach entscheidende Faktoren für die Nicht-Reproduktion sein. Affektive Bindungen können das Ausbrechen aus der Klasse sowohl begünstigen, als auch verhindern.

Es liegt in der Natur der Sache, dass eine Regelhaftigkeit der Ausnahmefälle schon deshalb schwer nachzuzeichnen ist, weil Ausnahmen von der Regel sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie keiner Logik gehorchen. Jaquet ist dennoch redlich bemüht, Tendenzen in den affektiven und sozialen Effekten aufzuspüren, die jene Menschen geprägt haben, die sich aus ihrer Herkunftsklasse lösen konnten. Das macht ihr Buch durchaus lesenswert, auch wenn man ihre Schlussfolgerungen nicht teilen kann: Entscheidend für das Verständnis des Klassenenübergangs ist bei Jaquet die »Komplexion«; darunter versteht sie eine komplexe und individuell einzigartige »Montage miteinander verbundener physischer und mentaler Bestimmungen«. »Der Begriff Komplexion«, schreibt sie, »regt dazu an, die feinen Unterschiede zu berücksichtigen, die Besonderheiten der Menschen, und konflikthafte Beziehungen eher mit dem Begriff des Erkennens als des Anerkennens zu denken. Ein kognitiver Prozess scheint geeigneter, weil es darum geht, eine Wirklichkeit zu erfassen, die sich selbst entgleitet, und nicht bei einer gemeinsamen Charakteristik stehenzubleiben. Deshalb impliziert das Denken der Komplexion einen Bruch mit dem Denken der Identität und legt eine Dekonstruktion des persönlichen und so­zialen Ichs nahe.« Nur der Gedanke der Komplexion könne die Nicht-­Reproduktion erklären. Aber das gilt nur sehr bedingt.

Unbeantwortet lässt die Theorie der Komplexion etwa die Frage, warum Klassenübergänge nicht viel häufiger stattfinden. Der Aufstieg bleibt strukturell die absolute Ausnahme. Der Hinweis auf die Komplexität der Welt und die Besonderheit individueller Lebenswege ändert nichts daran, dass soziale Aufstiege unter neoliberalen Bedingungen noch wesentlich unwahrscheinlicher geworden sind als sie es noch 30 Jahre zuvor waren. Was nicht heißt, dass sie nicht vorkommen und dass die Welt sich nicht ändert.
Jaquets Ausführungen zur Wirksamkeit sozialer Scham sind indes so beredt, dass sie ihrer eigenen These zuwiderlaufen. Die Klassenübergänger schämen sich ein Leben lang doppelt: für ihr Herkunftsmilieu und dafür, dass sie sich schämen. Scham, so Jaquet, bleibt »einer der beständigsten Marker auf dem Lebensweg der Klassenübergänger«, in ihr ver­lagern sich die Ressentiments gegenüber den unterprivilegierten Schichten in die Körper hinein. Soziale Scham werde zum »geschlossenen Kreislauf« und vervielfache sich, selbst wenn die realen »Gründe der Schmach entfallen sind«. Das ist wohl eher ein Beispiel für die brutale Wirksamkeit »sozialer Macht«, für die »Gesellschaft als Urteil«, und nicht für ihre Nicht-Reproduktion. Und auch nach »kritischer Distanz« und Möglichkeiten individueller Lebensgestaltung klingt das eher nicht.
Martin Eden jedenfalls, Jack Londons unermüdlicher Bildungsaufsteiger, nimmt sich am Ende das ­Leben.

 

Chantal Jaquet: Zwischen den Klassen. Über die Nicht-Reproduktion sozialer Macht. Aus dem Französischen von Horst Brühmann. Konstanz University Press, Konstanz 2018, 253 Seiten, 26 Euro