Man sollte das Werk von Bertolt Brecht nicht mit seinen Gesundheitsproblemen in Verbindung bringen

Gebrechlicher Brecht

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Was aber soll der Dichter Brecht für ein Mensch gewesen sein? Selbstsüchtig, stimmungsschwankend, »auf krankhafte Weise von seinem körperlichen Befinden besessen«, obsessiv, kontrollsüchtig, streitsüchtig – all das kann man bei Parker lesen. Ist aber mit diesen psychologischen Charakterisierungen tatsächlich etwas erklärt? Zu welchen eigenartigen Konsequenzen eine Betrachtungsweise führt, die das psychologische Moment als das alleinursächliche nimmt, zeigt sich an folgender Stelle: Als Brecht in dem Münchner Seminar von Artur Kutscher den jungen expressionistischen Schriftsteller Hanns Johst scharf angreift, ist das für Parker vor allem ein Beweis für Brechts Karrierismus. Parker bemängelt, dass Brechts frühe Kritik an Johst »alle Regeln akademischer Gepflogenheiten missachtete«, diagnostiziert dann »ein von sich selbst besessenes Spiel mit dem Feuer, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen«, getrieben von »ungedecktem Ehrgeiz«. Sachliche Gründe für die Auseinandersetzung lässt Parker zunächst unerwähnt, obwohl er zwei Seiten später sogar aus einem Brief Brechts zitiert, in dem es heißt: »Johst ist ein Völkischer, da wird es heiß hergehen«. Johst wurde später Mitglied im Kampfbund für deutsche Kultur, in der NSDAP, der Waffen-SS und Präsident der Reichsschrifttumskammer. Man müsste doch dann konsequenterweise so argumentieren, dass Brecht bei der Wahl derer, die er als seiner Karriere im Wege stehend betrachtete, den richtigen politischen Instinkt bewiesen hat.

Die politischen Dimensionen von Brechts Leben und Werk darzulegen, damit tut sich Parker überhaupt sichtlich schwer. »Marxismus interessierte Brecht als ein Zweig der Soziologie« ist da beispielsweise zu lesen. Schlimmer kann man über Brecht wohl kaum urteilen, der solche akademische Schubladenden­kerei schlechthin ablehnte. Bei den Werkinterpretationen verfährt der Biopraph oft ähnlich. So bezeichnet er »Das Leben des Galilei« als »großartige Kontemplation« auf Brechts »eigenes Schicksal«; dass sich das Stück aber mitnichten in der biographischen Dimension erschöpft, führt er überhaupt nicht aus. Substantielles über die Werke ist so nicht zu erfahren. Das Problem ist, dass Parkers vielversprechender Ansatz stets von der einen Sackgasse in die nächste führt. Wer nur gegen das Bild von Brecht als Rationalist und Marxist argumentiert, sieht zwar die darin nicht aufgehenden Momente sehr deutlich, aber eben nicht das Gesamtbild. So gibt Parkers Biographie zu denken, über die Biographik im Allgemeinen und die Brechts im Speziellen.

Über die biographische Wahrheit sagte Sigmund Freud einmal, dass sie nicht zu haben sei. Das ist bei Parker nicht anders. Sind die physischen und psychischen Pathologien Brechts denn die biographische Wahrheit? Und was ist dann mit all jenen Momenten, die nicht durch Krankenakten und ähnliches gedeckt sind? Je mehr man sich ins Biographische vertieft, desto mehr entfernt man sich von dessen Wahrheit. Je mehr also Parker versucht, den »ganzen Brecht« aus dem »persönlichen Brecht« zu erklären, desto weniger versteht man von Brecht und seinem Werk. Übrig bleibt ein schrulliger Einzelfall. Hinzu kommt im Speziellen, dass der »Kreuzzug gegen Brecht« (André Müller sen.) in den letzten Jahren kaum mehr auf der politischen Ebene stattfand, sondern vor allem auf der biographischen. Brecht als moralisch untragbaren Charakter darzustellen – wie vor allem von John Fuegi betrieben –, hat sich als effektiv erwiesen. Die Auswirkungen davon merkt man noch bei Parker, wenn er Brecht an den Maßstäben der eigenen neoviktorianischen Sexualmoral misst und durchfallen lässt.

Wenn Parker sich einmal anerkennend über Brecht äußert, dann in solch verräterischen Formulierungen wie der des »großen« und »explosiven« Querdenkers. Das sind Etikettierungen, die in ihrer Phrasenhaftigkeit sicherstellen sollen, dass man Brecht als scheinbar besonders exotisches Exemplar der Gattung Mensch irgendwie schon toleriert, aber jeden Geltungsanspruch seiner offenbar ja sehr verqueren Gedanken zurückweist. Offensichtlich wird, dass die Auseinandersetzung um Brecht noch lange nicht beendet ist. Das Gegenteil von Parkers allzu sehr der positivistischen Psychologie verhafteten Biographie sind beispielsweise die kenntnis- wie erkenntnisreichen Aufsätze des Brecht-Forschers Jost Hermand. Der urteilte schon vor Jahren, dass »Brecht nur noch ein Objekt der heutigen, aus Profitgründen auf gewinnträchtige Skandale und Sensatiönchen eingespielten Kulturindustrie« sei. Die Wahrheit über Brecht liegt eben vor allem in dem, was Brecht anstrebte und was im kulturindustriellen Spektakel zumeist untergeht: die »Bewohnbarmachung der Erde«. Und die steht auch 120 Jahre nach Brechts Geburt noch aus.

 

Stephen Parker: Bertolt Brecht. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Ulrich Fries und Irmgard Müller. Suhrkamp, ­Berlin 2018. 1030 Seiten, 58 Euro.