Die kritische Kunstszene in der Türkei

Gegen die Realität

Künstlerinnen und Künstler in der Türkei sind starken Repressionen ausgesetzt. Einige von ihnen wehren sich allerdings auf künstlerische Art.

Ein Jahr lang sitzt der türkische ­Geschäftsmann und Kunstmäzen ­Osman Kavala schon in Untersuchungshaft. Niemand weiß, was ihm konkret vorgeworfen wird. Am 18. Oktober 2017 wurde Kavala auf dem Istanbuler Flughafen festgenommen. Nach sechs Monaten schaltete die Ehefrau Kavalas, Ayşe Buğra, den Europäischen Gerichts­hof ein, da die nationalen Gerichte den Rechtsweg nicht einmal einleiteten. Bislang existiert keine Anklageschrift, dafür gibt es viele diffuse Anschuldigungen. Kavala ist Besitzer des freien Kunstraums »Depo« in Istanbul und nutzte diesen Ort vor ­allem dazu, ein künstlerisches Programm zur Förderung von Minderheiten zu veranstalten, etwa die Schau von Resultaten eines Austauschprogramms zwischen türkischen und armenischen Künstlern und Kulturschaffenden. Jahrelang lag dieses Programm auch ganz auf der Linie der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP).

Mittlerweile behaupten regierungsnahe Medien in ihren Darstellungen ohne jegliche Beweise, dass Kavala ein Spion des Westens sei und gar zu den Drahtziehern des gescheiterten Militärputsches von 2016 gehöre. Die ­Reformpolitik, die etwa eine Dekade lang der AKP enormen Stimmen­zuwachs auch bei einstigen Gegnern einbrachte, hat sich mit der absoluten Mehrheit im Parlament 2011 geändert. »Der Übergang erfolgte schleichend«, reflektiert die türkische Politikwissenschaftlerin Mine Eder. Kavalas Ehefrau, Ayşe Buğra, ist eine Kollegin von ihr aus dem Professorenstamm der Elitehochschule Bosporus-Universität. »Die Regierung begann, autokratisch Gesetze zu erlassen und populistische Maßnahmen zur künstlichen Ankurbelung der Wirtschaft durchzusetzen«, so Eder weiter. Landesweit wurde etwa eine Kampagne zur Minderung der Wohnungsnot in den Städten losgetreten, die Betonwüsten hinterlassen hat. Viele der Gebäude stehen allerdings leer. »Heute spüren wir durch den Währungsverfall, dass das keine wirklich konjunkturfördernden Reformen, sondern tote Investitionen waren«, unterstreicht Eder und meint damit auch die neue Bosporusbrücke in Istanbul und den vor kurzem eröffneten gigantisch großen neuen Flughafen in der Stadt.

So offen Kritik zu üben, traut sich fast niemand mehr in der Türkei. Medienplattformen wie »Özgürüz« oder »Ahval« werden aus den USA und Deutschland betrieben. In der Türkei sind sie gesperrt und nur über Proxyserver erreichbar, die das Geoblocking unterlaufen. Entlassungen und Verhaftungen sind nicht vorhersehbar, meist trifft es die Betroffenen unerwartet.

Die kurdische Künstlerin Menekşe Samancı nahm 2011 an einer Ausstellung der Verwaltung des Bezirks Tepebaşı in der westanatolischen Stadt Eskişehir teil. Sie solidarisierte sich mit dem Bildhauer Mehmet Aksoy, dessen Mahnmal gegen den Völkermord an den Armeniern an der Grenze zu Armenien auf Geheiß Erdoğans aus dem öffentlichen Raum entfernt wurde. Der derzeitige Prä­sident und damalige Ministerpräsident hatte das Kunstwerk als »Monster« bezeichnet. Samancı stellte eine Videoanimation her, auf der das Wort »Monster« auf einem Transparent zwischen die Minarette einer Moschee gespannt wurde. Es ahmt Banner nach, die von der staatlichen Religionsbehörde gern im Fastenmonat Ramadan als Aufruf zum Gebet aufgehängt werden. »Ich habe mit nichts Bösem gerechnet«, unterstreicht Samancı, »es handelte sich um eine kleine, unbedeutende Ausstellung in einem lokalen Ausstellungsraum.« Die Anzeige eines missgünstigen Bürgers reichte aus, um ein Verfahren wegen Verletzung der religiösen Gefühle anderer einzuleiten. Vier Jahre später wurde Samancı zu fünf Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt.

Bezüge aufs Osmanische Reich erfreuen sich großer Beliebtheit in der türkischen Kunst und Popkultur, weil damit unterschwellig die türkische Regierung aufs Korn genommen werden kann.

Dementsprechend versuchen die Künstler der Zensur durch raffinierte Metaphorik zu entgehen, die nicht so leicht fassbar ist. »Göt Lalesi«, »Arschtulpe« heißt etwa eine Zeichnung der Künstlerin Cansu Çakar. Eine kunstvolle kalligraphische Arbeit, deren frivole Freizügigkeit durch den derben Titel noch unterstrichen wird. Das Hinterteil eines weiblichen Torsos wird darauf von einer Tulpe geschmückt, die im After steckt. Ästhetisch befolgt Çakar alle Regeln klassischer Kalligraphie, wie sie seit 800 Jahren am Bosporus gelehrt wird. Motiv und Titel wären in den Werkstätten der strengen Kalligraphiemeister am osmanischen Hof aber undenkbar gewesen. »In meinen Kompositionen benutze ich oft die klassischen Motive und stelle sie in absurde Kontexte, um das Heute in einer historisch-kritischen Art und Weise zu hinterfragen«, erklärt Çakar ihre Methode.

Bezüge aufs Osmanische Reich erfreuen sich großer Beliebtheit in der türkischen Kunst und Popkultur, weil damit unterschwellig auch immer die konservative Frömmelei der türkischen Regierung aufs Korn genommen werden kann. In den kalligraphischen Darstellungen des Osmanischen Reichs dienten Ornamente und Blumenverzierungen zwar in erster Linie als Symbole für ethische und theologische Diskurse. »Die Tulpe symbolisiert in der Kalligraphie die Einheit und Präsenz Gottes«, unterstreicht Çakar. Die Tulpe ist neben den Rosen in der Dichtung aber auch eine Metapher für die menschliche Sexualität. Çakar interessiert sich für die Brüche, die durch unverwechselbare und oft komische Redewendungen erzeugt werden. Während die Dichter die Genitalien und sekundären Geschlechtsorgane gern als knospende Rosen und sich öffnende Tulpen bezeichneten, ist die Arschtulpe im Volksmund der in den Schaufenstern von Metzgereien mit Peter­silie oder Minze verzierte Anus geschlachteter Tiere. »In der Umgangssprache werden auch Städter aufgrund ihrer gedrechselten Umgangsformen vom Mann auf der Straße gern als Arschtulpe bezeichnet«, erzählt die Künstlerin lächelnd. Das Motiv von Çakars Zeichnung thematisiert eine Wirklichkeit, in der sich traditionelle Gesellschaftsstrukturen grundlegend verändert haben. Lebten in den achtziger Jahren noch 70 Prozent aller Bürger auf dem Lande und 30 Prozent in der Stadt, so ist es heutzutage genau umgekehrt. Die daraus resultierenden Spannungen sind eines der zentralen Themen der zeitgenössischen türkischen Kunst.

Künstlerinnen wie Cansu Çakar beklagen, dass sich ein Wertesystem in der Gesellschaft und den urbanen Zentren etabliert, das vor allem Frauen gegenüber repressiv ist. Zwar ist seit zwei Jahren die Demonstration am internationalen Frauentag die einzige, die auf dem Istiklal Boulevard in Istanbul zugelassen wird. Aber während die Überbleibsel der Gezi-Bewegung einmal im Jahr dort mehr Freiheiten fordern, preisen islamisch-konservative Politiker im Fernsehen Frauen als die Blumen der Gesellschaft an und diskutieren öffentlich, ob das Mindestalter von Eheschließungen wieder gesenkt werden sollte.

»Ähnlich wie die momentane Politik mit ihrer Bauwut die Natur in den Städten mit Füssen tritt, geht sie im Rahmen dieser Rhetorik auch mit den Frauen um«, unterstreicht Çakar.

Die Arschtulpe ist eine feinsinnige Form künstlerischen Widerstands gegen diese Realität.