Das Medium - Ein Besuch bei der SPD

Nicht mal heimlich

Kolumne Von

Viel zu tun gab es in der Kleinstadt für gelangweilte 13jährige nicht, und so war meine ­erste Begegnung mit der SPD nur eine Frage der Zeit. Die Nachricht, dass ein sozialdemokratischer Abend geplant war, zu dem sogar Teenager eingeladen waren, wurde mit Begeisterung aufgenommen. Alles, was Abwechslung vom alltäglichen Herumhängen im Jugendzentrum oder an der Bushaltestelle versprach, war schließlich erst einmal gut. Und außerdem würde ein Besuch bei der SPD meinen Opa ärgern, was auch ganz prima war, denn der war, wie sich das für einen Bankdirektoren gehört, äußerst konservativ, obwohl er in puncto Streitlust beständig nachließ und zuletzt auf den Spruch vom Bankraub, der ja nichts gegen die Gründung einer Bank sei, mit einem »Stimmt« reagiert hatte. Also gingen wir zur SPD, bei der es rappelvoll war, denn natürlich waren viele Bergleute gekommen, aber auch Lehrer und Geschäftsleute, und alle waren begeistert und am Ende wurde »Wann wir schreiten Seit’ an Seit’« und die Internationale gesungen, und viele standen mit erhobener Faust da und hatten Tränen in den Augen. Heute fragt man sich, wo diese Menschen hin sind, die können ja nicht alle tot sein.

Meine Familie nahm den Bericht vom Besuch bei der SPD gefasst auf. Und es stellte sich heraus, dass mein Opa die Internatio­nale und die Parteigeschichte auswendig kannte. Die hatte er als Kind gelernt, als er von einer Tante aufgenommen worden war, über die er gern sagte: »Ein wunderbarer Mensch, obwohl sie Sozialdemokratin war.« Manchmal hatte ich den Verdacht, dass er heimlich die SPD wählte. Gefragt habe ich aber nie. Mittlerweile gibt es kaum noch jemanden, dem man diese Frage überhaupt stellen könnte, denn heutzutage wird die SPD nicht einmal mehr heimlich gewählt.