In der Schweiz soll ­darüber abgestimmt werden, ob Versicherte auch in ihren Privaträumen überwacht werden dürfen

Der Blick ins Schlafzimmer

Im November sollen die Schweizer Stimmberechtigen entscheiden, ob private »Sozialdetektive« Sozialleistungsbezieher auch in deren eigenen vier Wänden ausspionieren dürfen. Kritiker bemängeln, dass die Regierung vor dem Referendum mit unlauteren Mitteln für das zur Abstimmung stehende Gesetz werbe.

Sozialspitzel haben eine gewisse Tradition in der Schweiz, sind aber höchst umstritten. Ab 2009 ließen der öffentlich-rechtliche Unfallversicherer Suva und die staatliche Invalidenversicherung (IV) verdächtige Leistungsbezieher von privaten Detektiven observieren. Die Suva wurde für diese Praxis im Herbst 2016 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gerügt.

Die verdeckte Überwachung ­einer Schweizerin durch Beauftragte der Unfallversicherung habe in unzu­lässiger Weise deren Privatsphäre verletzt. Für die Observation bestehe nur eine ungenügende gesetzliche Grundlage, argumentierte das Gericht in Straßburg. Das Bundesgericht, die oberste juristische Instanz der Schweiz, bestätigte das Urteil im vergangenen Jahr auch in Hinblick auf die IV.

Das Gesetz soll für alle Sozialversicherungen, also auch die Unfall-, Arbeitslosen- und Krankenversicherungen sowie die obligato­rische Rentenversicherung (AHV), ­gelten. Es geht um einen richtungsweisenden Entscheid, der die künftige Praxis der privaten Überwachung von fast allen in der Schweiz lebenden Personen, aber insbesondere von ohnehin häufig stigmatisierten Gruppen, bestimmen wird.

Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) wies deshalb die IV-Stellen an, keine Observationen mehr in Auftrag zu geben. Die Suva hatte wegen des EGMR-Entscheids bereits von 2016 an auf den Einsatz von Privatdetektiven verzichtet.

Die Schweizer Regierung und das ­nationale Parlament reagierten mit einer Anpassung der Rechtslage im ­Eilverfahren. Die Befugnis zum Ausspionieren von Versicherungsnehmern sollte auf keinen Fall länger ausgesetzt bleiben. Die Änderung des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) wurde trotz Kritik der Linken im Stände- und Nationalrat bereits im März von beiden Kammern des Parlaments mit deutlicher Mehrheit angenommen. Dabei seien die Befugnisse der beauftragten Detektive weit über das angemessene Maß hinaus erweitert worden, bemängelt der Schweizer Verein »humanrights.ch«.

Sozialspionage betrifft längst nicht nur Suva- und IV-Bezieher. Das Gesetz soll für alle Sozialversicherungen, also auch die Unfall-, Arbeitslosen- und Krankenversicherungen sowie die obligato­rische Rentenversicherung (AHV), ­gelten. Es geht um einen richtungsweisenden Entscheid, der die künftige Praxis der privaten Überwachung von fast allen in der Schweiz lebenden Personen, aber insbesondere von ohnehin häufig stigmatisierten Gruppen, bestimmen wird.

Gegen die Gesetzesänderung ergriffen Privatpersonen die Initiative zu einem Referendum, vorerst ohne Unterstützung von Institutionen. Dem Komitee »Versicherungsspione Nein« schlossen sich schließlich aber auch linke Parteien, Behindertenverbände und Gewerkschaften an. Diese begründeten ihr ­Zögern mit der Angst vor einer gesellschaftlichen Debatte, die sich erneut um »Sozialschmarotzer« und »Schein­invalide« drehen könnte. Die darauf abstellende Propaganda der rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei (SVP), die bei den Nationalratswahlen 2015 mit 29,4 Prozent der Stimmen erneut zur stärksten Partei wurde, und ihrer Sekundanten hatte in der Ver­gangenheit Wirkung gezeigt. Das Komitee sammelte schließlich über 50 000 Unterschriften für ein Referendum, die Stimmberechtigten sollen im November über den vom Parlament verabschiedeten Entwurf entscheiden.

Deswegen ist eine teils hitzige Diskussion entbrannt. Anlass zur Kritik geben nicht nur bestimmte Punkte in der ­Gesetzesänderung, sondern auch die ­nebulös formulierten Grundlagen für die Überwachungspraxis.

Thomas Gächter, Professor für Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich, stellte in Hinblick auf die Vorlage in der Online-Publikation Republik fest: »Sie ist unverhältnismäßig und rechtlich nicht durchdacht.« Sozial­detektive hätten künftig beim Einsatz technischer Überwachungsmittel in nicht öffentlich zugänglichen Orten mehr Kompetenzen als die Polizei. ­Zudem dürften sie frei einsehbare Orte überwachen, also auch in Balkone oder nicht verdeckte Wohnzimmer blicken. Die Observationen könnten von Versicherungsmitarbeitern nach eigenem Ermessen angeordnet und die ­Beweise mangels eines Verwertungsverbots auch dann zugelassen werden, wenn sie illegal zustande gekommen sind.

Die Schweizer Regierung ist erpicht darauf, dass die Gesetzesänderung ­zügig in Kraft tritt. Alain Berset, Bundesrat und Vorsteher des Innendepartements (in den Befugnissen vergleichbar mit dem US-Innenministerium, Anm. d. Red.), warb kürzlich im Namen der Regierung um Zustimmung zur Vorlage. Es habe in der Vergangenheit wenige Observationen gegeben und die Detektive müssten einen guten Leumund und eine entsprechende Ausbildung mitbringen, sagte der Sozialdemokrat der Presse. Zudem behauptete Berset, dass Observationen im Innenbereich ­eines Hauses nicht erlaubt seien, und verwies dazu auf einen Gerichtsentscheid. Dieser beruht aber auf einer Rechtslage, die nach der vom Parlament vorgeschlagenen Gesetzesänderung für Sozialdetektive nicht mehr gelten würde. Die Spione dürften demnach explizit auch jene Bereiche überwachen, die »von einem allgemein zugänglichen Ort aus frei einsehbar« sind.

Das Referendumskomitee wirft der Regierung vor, mit unlauteren Mitteln zu arbeiten. Denn Bersets Einschätzung wird unter dem Titel »Erläuterungen des Bundesrates« im »Bundesbüchlein« an die rund 5,4 Millionen Stimmbürgerinnen und -bürger der Schweiz versandt. Das rote Heftchen mit den wichtigsten Fakten und ­Argumenten erhalten die Stimmberechtigten jeweils vor Abstimmungen.
Das Komitee hat nun eine Abstimmungsbeschwerde eingereicht und will damit die Verteilung des »Bundesbüchleins« aufhalten. Es verharmlose das Gesetz und enthalte irreführende Informationen. Nicht nur habe der Bundesrat zur Überwachung von Privaträumen falsche Angaben gemacht, sondern auch behauptet, dass der Einsatz von Drohnen, Richtmikrophonen und Wanzen nicht erlaubt sei. Beide Punkte widersprechen der Einschätzung von Thomas Gächter, dessen Meinung verschiedene Juristen teilen.

Der Fall wird vermutlich vom Schweizer Bundesgericht beurteilt werden müssen. Falls die Richter in Lausanne die Einschätzung der Beschwerde­führer teilen, könnte es sein, dass die Abstimmung verschoben werden muss, weil die in der Verfassung festgeschriebene freie Meinungsbildung verletzt wurde. Das wäre ein Novum in der Schweiz.

Mittlerweile hat sich ein liberales Komitee ebenfalls gegen das Gesetz ausgesprochen. Das Komitee kritisiert vor allem den »Angriff auf die Privatsphäre«. Ohnehin dreht sich in der Debatte vieles um den Schutz des Schlafzimmers oder um die konkreten tech­nischen ­Mittel, die zur ­Anwendung kommen könnten. Häufig konzedieren Kritiker pflichtschuldig die Notwendigkeit, Sozialmissbrauch zu bekämpfen, da dieser der Volkswirtschaft schade. Ob die Sozialdetektive überhaupt einen finanziellen Nutzen bringen, ist längst nicht geklärt, der Zweck scheint primär in der Disziplinierung potentiell Betroffener zu liegen – das wird allerdings kaum thematisiert.

Wie die Abstimmung auch ausgeht: Was die SVP und Konsorten in ihren unzähligen Kam­pagnen gegen »Sozialschmarotzer« und »Schein­invalide« gesät haben, scheint in der Debatte bereits aufgegangen zu sein.