Zwischen der Ukraine und Ungarn ist ein Streit um die ungarische Minderheit in ­Transkarpatien entbrannt

U gegen U

Zwischen Ungarn und der Ukraine ist ein Konflikt entbrannt. Es geht um den Status der ungarischen Minderheit in der ukrainischen Region Transkarpatien.

An der östlichen Grenze der EU liegt die ukrainische Region Transkarpatien. Von dort kommen vor allem geschmuggelte Zigaretten, oft illegal gefälltes Holz und Arbeitsmigranten in die EU. Doch mittlerweile steht das kleine Transkarpatien und seine noch kleinere ungarische Minderheit im Mittelpunkt eines internationalen Konflikts, der die Anbindung der Ukraine an die EU ­gefährden könnte.

Das Youtube-Video, das Ende September die Krise zwischen Ungarn und der Ukraine auslöste, zeigt wenig Neues. Es wurde offenbar mit versteckter ­Kamera aufgenommen, zu sehen ist, wie an ukrainische Staatsbürger in einem ungarischen Konsulat Pässe verteilt werden. Dann singen sie die Nationalhymne – die ungarische. Jemand mahnt sie noch, ihre ungarischen Papiere vor den ukrainischen Behörden zu verbergen.

Für den ukrainischen Staat, der um seine Einheit kämpft, sind solche ­Szenen ein Affront. Der ukrainische Außenminister Pawlo Klimkin reagierte prompt. In Transkarpatien werde es in Zukunft »mehr und mehr Ukraine geben«, dafür werde man sorgen.
Dabei war die Enthüllung gar keine. Viele der 150 000 ungarischen Ukrainerinnen und Ukrainer arbeiten im Schengenraum. Und nie hatte die nationalkonservative ungarische Regierung unter Viktor Orbán ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie Pässe an ­so­genannte Auslandsungarn verteilt. Politik und Behörden in der Ukraine ­hatten das jahrelang toleriert. Nun aber hat die ukrainische Regierung offenbar einen Vorwand gesucht, um öffentlich hart gegen Ungarn aufzutreten.

Die Regierung Orbán profiliert sich innenpolitisch mit ihrem patrio-tischen Kampf für die »Auslands-ungarn«, während die radikalen Nationalisten gleich von der Annexion Transkarpatiens träumen.

Es ist die Eskalation eines Konflikts, der seit Jahren schwelt. »Die Anstachelung zum Hass gegen die Ungarn in der Ukraine wird nicht aufhören, solange der jetzige Präsident im Amt ist«, befand das ungarische Außenministerium Ende September. Beide Länder verwiesen je einen Konsul des Landes. Besonders besorgniserregend für die Ukraine ist, dass Ungarn als EU- und Nato-­Mitglied die Westanbindung des Landes blockieren kann. Seit über einem Jahr ist wegen des ungarischen Vetos etwa die Nato-Ukraine-Kommission nicht mehr zusammengetreten. Das missfällt auch der Nato und könnte ein Grund dafür gewesen sein, dass die Ukraine den Konflikt verschärft hat.

Den Ungarinnen und Ungarn in der Ukraine ging es lange relativ gut. Sie erhielten Entwicklungshilfe von der ungarischen Regierung und verfügten über eigene ungarischsprachige Schulen. Dass Zehntausende dauerhaft nach Europa emigrierten, hatte vor allem wirtschaftliche Gründe. Doch seit den »Euromaidan«-Protesten 2014 wurde die Situation schwieriger. Die neuen Machthaber betreiben eine Ukrainisierungspolitik. Eine 2017 verabschiedete Bildungsreform ist der Kern des Streits. Ab 2020 müssen alle weiterführenden Schulen, wie bereits die ­Universitäten, weitestgehend auf Ukrainisch unterrichten. Dabei geht es vor allem um russischsprachige Schulen, doch die klei­neren Minderheiten in der Ukraine – Polen, Rumänen, Ungarn – sind ebenfalls betroffen. Die Europäische Kommission für Demokratie durch Recht, auch bekannt als Venedig-Kommission, urteilte zwar, das Gesetz sei grundsätzlich mit den Verpflichtungen der ukrainischen Regierung vereinbar, die Rechte von Minderheiten zu schützen, denn ihre Sprachen werden weiter ­gelehrt, aber weder die Regierung in Ungarn noch die Vertretungen der ­ukrainischen Ungarn wollen die Reform akzeptieren.

Provokationen der ungarischen Regierung verschärften die Lage. Während der Unruhen 2014 forderte Orbán Autonomie für die ukrainischen Ungarn. Nach der Annexion der Krim durch Russland 2014 klang das für viele Ukrainerinnen und Ukrainer feindselig, zumal ungarische Staatsmedien oft aus stark prorussischer Perspektive über die Ukraine berichteten und Ungarn enge Geschäftsbeziehungen zu Russland unterhält. Orbán droht längst damit, jede Kooperation der EU und der Nato mit der Ukraine zu torpedieren. Die Schrillheit der ungarischen Rhetorik sorgt bei anderen Nato-Partnern für Befremden. Vergeblich versuchte die Nato zu vermitteln.

Auch russische Staatsmedien griffen das Thema auf, offenbar in der Absicht, einen Zerfall des ukrainischen Staats herbeizureden. Obwohl es ernste ­Autonomiebestrebungen nicht gibt, ist die »Ungarnfrage« damit zu einem Reizthema geworden. Anfang des ­Jahres kündigte die ukrainische Regierung an, an der Grenze zu Ungarn erstmals wieder dauerhaft 800 Soldaten zu stationieren. Die ungarische Regierung wie auch Vertreter der ukrainischen Ungarn werteten das als Provokation.

 

Die Regierung Orbán profiliert sich innenpolitisch mit ihrem patriotischen Kampf für die »Auslandsungarn«, ­während die radikalen Nationalisten gleich von der Annexion Transkar­patiens träumen. So wird der Konflikt von der Mobilisierung nationalistischer Affekte befeuert – auf beiden Seiten. Denn in der Ukraine herrscht vor der Präsidentschaftswahl im März ebenfalls eine nationalistische Stimmung. »Armee, Sprache, Glaube« ­lautet der Slogan, mit dem Präsident Petro Poroschenko seinen Wahlkampf bestreitet. Seine Zustimmungswerte bei den Wählern liegen derzeit im einstelligen Prozentbereich, nun setzt er auf patriotischen Populismus.

Derzeit wird im ukrainischen Parlament über ein umfassendes Sprachengesetz verhandelt, das Ukrainisch als die dominante Sprache in allen öffentlichen Bereichen vorschreiben würde. Alle nicht­ukrainischsprachigen Medien müssten demnach simultan auf Ukrainisch erscheinen. So würde das geplante Gesetz de facto nicht nur die Rechte von Minderheiten einschränken, sondern auch die Pressefreiheit. Mehrsprachigkeit, die noch vor wenigen Jahren gesetzlich geschützt war und von Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern im Alltag praktiziert wird, wird im Gesetzentwurf explizit abgelehnt.

Jüngst nahm auch die Zahl rechtsextremer Gewalttaten in der Ukraine wieder zu. Die Organisation der ungarischen Minderheit (KMKSZ), die aus Budapest finanziert wird, hat insgesamt 182 antiungarische Vorfälle seit 2014 dokumentiert. Es geht um Vandalismus, rechtsextreme Demonstrationen und Diskriminierung. Der vielleicht am schwersten wiegende Fall ereignete sich im Februar, als ein Kulturzentrum in Uschhorod durch eine Explosion zerstört wurde. Im März gab es einen weiteren Anschlag auf das Zentrum.

Die ukrainischen Behörden gehen ­davon aus, dass es sich bei den Attentätern vom Februar um rechtsextreme Polen der Organisation Falanga gehandelt habe, die im Auftrag prorussischer Kräfte handelten. Als mutmaßliche Ausführende des Anschlags im März wurden Ukrainer festgenommen, die im Donbass gekämpft haben sollen. Beide Fälle sehen die ukrainischen Behörden als Versuche Russlands an, Konflikte in der Region zu schüren.

An dieser Version gibt es allerdings Zweifel. »Dieser Angriff zeigt, dass die antiungarischen Maßnahmen der ukrainischen Regierung die aggressiven ­Nationalisten in ihren Akten der Gewalt und des Hasses bestärkt haben«, schrieb die KMKSZ in einer ihrer Broschüren über das Attentat vom Februar. Sie spricht von einer systematischen Strategie, um die Ungarn zur Assimilation zu zwingen. »Die ukrainischen Massenmedien – größtenteils im ­Besitz von Unternehmen, die politischen Parteien nahestehen – führen eine Angriffskampagne gegen die Ungarn«, heißt es weiter. »Diese werden fälschlicherweise als Separatisten, antiukrainisch eingestellt oder als Staatsfeinde verleumdet.«

Im Oktober veröffentlichte die nationalistische ukrainische Website ­Mirotworez private Informationen über mehrere Hundert ukrainische Ungarinnen und Ungarn, die eine doppelte Staatsbürgerschaft besitzen sollen. Die Mirotworez benennt immer wieder angebliche »Feinde der Nation«, um diese einzuschüchtern, und hat Verbindungen zu den ukrainischen Behörden. Parallel dazu wurde auf der Website des ukrainischen Parlaments eine ­Bürgerpetition online geschaltet, die die Deportation aller Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft forderte.

Die KMKSZ klagt auch die Regierung direkt an. »Wir bedauern, dass angesichts der bevorstehenden Wahlen versucht wird, aus dem Schüren von ­ethnischen Spannungen zwischen Ukrainern und Ungarn politisches Kapital zu schlagen«, schrieb sie in einem Statement am 13. Oktober.

Der Soziologe Wolodymyr Ischtschenko kritisiert ebenfalls, dass die Regierung das Sprachenfrage für sich instrumentalisiert: »Die Mehrheit ist zwar heute für mehr Ukrainisch in der ­Öffentlichkeit, aber solche aggressiven Maßnahmen spalten vor allem das Land, auch wenn sie von einer aktiven Minderheit unterstützt werden und helfen, nationalistische Wähler zu mobilisieren. Die meisten Menschen ­sehen laut Umfragen schon jetzt die Meinungsfreiheit in Gefahr und ­halten etwa die Verbote russischer Medien und Filme für falsch.« Der Patriotismus der Regierung sei zumindest zum Teil politische Taktik: »Es ist leider eine Tradition in der Ukraine, mit polarisierenden Themen wie Sprache, Identität und Geschichte Wahlkampf zu machen.« Auch die Sicherheitsprobleme des Landes lassen sich durch die Ukrainisierungspolitik nicht lösen. Was wirklich für mehr Stabilität sorgen könnte, wäre eine inklusive Sprach- und Kulturpolitik, vor allem aber wirtschaftliche Entwicklung. »Das Problem ist, dass die Ukraine keine materiellen Anreize zur Assimilation bieten kann. Die ukrainische Sprache verspricht keinen hohen Lebensstandard, keine Arbeit, keine gute Bildung. Minderheiten wie die Ungarn orientieren sich Richtung Ausland, und selbst Millionen Ukrainer arbeiten in der EU oder in Russland.

Viele junge Ukrainer versuchen, im Ausland zu studieren.« Solange die schlechte wirtschaftliche Entwicklung anhalte, können Gesetze zur Stärkung der ukrainischen Identität zwar nationalistische Wähler mobi­lisieren, aber nicht das Ziel erreichen, die Gesellschaft zu einen, so Ischtschenko.