Am letzten Oktoberwochenende protestierte »Ende Gelände« im Hambacher Forst

Umkämpftes Gelände

Der erfolgreiche Protest gegen die Abholzung des Hambacher Forsts gibt der Umweltbewegung Auftrieb. Am letzten Oktoberwochenende hatte auch das Bündnis »Ende Gelände« zu Protesten im Forst aufgerufen, um einen schnellen Kohleausstieg zu fordern.

Johannes steht auf einem Feld, ihm gegenüber vier Polizisten in schwerer Montur. Er trägt einen Mantel wie die Schüler und Schülerinnen der Zauberschule Hogwarts aus der Jugendbuchreihe »Harry Potter« und starrt die ­Beamten an, die hinter ihren heruntergeklappten Visieren zurückstarren. »Ich bin hier, um auf beiden Seiten zu deeskalieren«, sagt er. »Manchmal dreht die Polizei durch und setzt Pfefferspray ein, die Aktivisten und Aktivistinnen werfen dafür mit Scheiße.«

Die Polizisten, vor denen Johannes steht, bewachen ein besetztes Haus in Mahnheim, einem kleinen Dorf im rheinischen Braunkohlerevier bei Düren. Die Besetzerinnen und Besetzer sind in das Haus eingezogen, um gegen die Umsiedlung und die anschließende Zerstörung des Ortes zu protestieren. Denn unter Mahnheim und dessen Umgebung liegen noch etwa 1,3 Milliarden Tonnen Braunkohle, die der Energiekonzern RWE fördern will. Die Besetzung des Hauses in Mahnheim ist der Auftakt zu »Ende Gelände 2018«, der größten Aktion zivilen Ungehorsams, die bislang im rheinischen Kohlerevier stattgefunden hat.

Hier, 30 Kilometer westlich von Köln, befindet sich mit dem Tagebau Hambach die größte Braunkohlemine Europas. Für deren Vergrößerung mussten bislang vier Dörfer aufgegeben, die Bewohner umgesiedelt und anschließend der Boden weggebaggert werden, zwei weiteren Orten steht dieses Schicksal noch bevor. Außerdem plant RWE, der Betreiber des Tagebaus, den Hambacher Forst zu roden, den seit Jahren von Umweltschützerinnen und Umweltschützer besetzt halten und dessen Verteidigung in jüngster Zeit für großes mediales Aufsehen gesorgt hat. Um die Rodung zu verhindern, pilgerten in den vergangenen zwei Monaten etwa 100 000 Menschen in das kleine Waldstück, das international zu einem Symbol des Protests gegen die Kohleverstromung geworden ist.

»Manchmal dreht die Polizei durch und setzt Pfefferspray ein, die Aktivisten und Aktivistinnen werfen dafür mit Scheiße.«
Johannes, Demonstrant

Auch Johannes’ Engagement im rheinischen Kohlerevier begann mit dem Protest der Menschen im Hambacher Forst. Seit Anfang Oktober komme er regelmäßig in den Wald und dessen Umgebung, vor allem um mit den Protestierenden zu reden und psychologischen Beistand zu leisten. »Den brauchen – gerade wenn Besetzungen geräumt werden – ziemlich viele Menschen«, sagt er.

Das Beispiel von Johannes zeigt, wie zentral der Hambacher Forst für eine neue Umweltbewegung geworden ist. In der politischen Debatte über Kohleenergie tauchte der Protest im immerhin seit über 12 000 Jahren bewaldeten Gebiet zwar auf, wurde aber meistens als utopische Aktion kauziger Baummenschen angesehen.

Als das Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes Nordrhein-Westfalen anordnete, die Baumhäuser im Hambacher Forst aufgrund von Brandschutzbestimmungen zu räumen, riefen die Menschen im Wald den »Tag X« aus. Daraufhin folgte eine große Mobilisierung in den sozialen Medien, an der sich neben Umweltinitiativen auch antifaschistische Bündnisse aus ganz Deutschland be­teiligten. So viele Menschen wie nie zuvor kamen in den Wald. An den Wochenenden nach dem 7. September, der als »Tag X« bezeichnet wurde, kamen mal 7 000, mal 20 000 Menschen zum regelmäßigen Waldspaziergang und be­teiligten sich auch an Neubesetzungen und dem Bau von Barrikaden (Jungle World 38/2018).

Anfang Oktober gab das Oberverwaltungsgericht Münster einem Antrag des Naturschutzvereins BUND statt, der RWE dazu zwang, die Rodungen zu stoppen. Die Begründung war, dass sie die Bechsteinfledermaus gefährdeten, eine stark bedrohte Fledermausart, die im Hambacher Forst viele Baum­höhlen bewohnt. Der »Hambi«, wie der Wald von seinen Verteidigerinnen und Verteidigern genannt wird, war vorerst gerettet und die Demonstra­tion am Wochenende danach, am 6. Oktober, wurde zur Party am Waldrand. Über 50 000 Menschen kamen, die Band Revolverheld spielte ein Konzert. Tags darauf hielten die nordrhein-westfälischen Grünen ihren Landesparteitag in unmittelbarer Nähe des Waldes ab.

 

Im Zug zum zivilen Ungehorsam

Die hohe Symbolkraft wollte auch das Bündnis für den Kohleausstieg »Ende Gelände« nutzen. Etwa 5 000 Menschen aus Deutschland und dem benach­barten Ausland erwartete das Bündnis für seine Blockade am Tagebau Hambach am 27. und 28. Oktober. Es charterte einen Sonderzug, der von Prag nach Düren fahren und mit über 1 000 Menschen an Bord einen Tag vor dem Aktionswochenende ankommen sollte.

Am Freitagmorgen, dem 26. Oktober, haben sich, neben einem großen Polizeiaufgebot viele Schaulustige am Dürener Bahnhof eingefunden. Eine Mutter steht mit ihrem Sohn am Gleis, sie wolle ihm »die Möglichkeit geben, eine so große Demo einmal selbst zu sehen«. Beide kämen aus der Gegend und interessierten sich schon länger für den Hambacher Forst. »Aber so ein Event sollte man sich schon selbst angucken«, sagt sie.

Wie alle anderen warten die beiden auf den Zug, der über zwei Stunden Verspätung hat – die Polizei Sachsen hatte ihn kurz hinter der tschechischen Grenze angehalten, um die Personalien der Reisenden aufzunehmen und ihre Taschen zu durchsuchen.

»Schreiben Sie, dass die Demonstranten hier nicht willkommen sind«, ruft ein älterer Mann in Hemd und teurer Lederjacke den ebenfalls am Bahnsteig wartenden Journalistinnen und Journalisten zu. Die Braunkohle gehöre zur Region und bedeute für viele Menschen im Raum Aachen ­berufliche Sicherheit. »Die Änderung der Energiewirtschaft muss sein, aber sie muss so laufen, dass es ohne Strukturbrüche geht. Und wenn es so läuft, wie die Demonstranten das wollen, haben die Menschen in unserer Region vor hoher wirtschaftlicher Armut Angst«, meint er.

»Das ist doch Quatsch!« fährt ihn ein anderer Mann an. »Der Strukturwandel ist Aufgabe der Politik.« Die Aktion von »Ende Gelände« sorge für den nötigen politischen Druck, sich schnell mit einem »guten« Kohleausstieg zu befassen, bei dem die Arbeiterinnen und Arbeiter in andere Arbeitsstellen überführt würden.

Als der Zug einfährt, herrscht bei Polizei und Presse große Verwirrung. Viele der Angekommenen wollen den Bahnsteig nicht verlassen – aus Angst, die Polizei könnte sie im engen Bahnhofs­tunnel einkesseln. »Wenn die uns ­unten kesseln wollen, kesseln wir uns lieber autonom selbst«, lautet der ­Konsens auf dem Bahnsteig und so wird ein Teil des Dürener Bahnhofs ­kurzerhand besetzt, woraufhin der Zugverkehr eingestellt wird.

»Eine ganz wichtige Fähigkeit, die man für so eine Besetzung braucht, ist, dass man immer wieder versucht, seine Gelassenheit zurück­zugewinnen.«
Nelli, Demonstrantin

Einige Stunden und viele genervte Fahrgäste später geben die Menschen aus dem Sonderzug den Bahnhof frei. Die Polizei leitet sie daraufhin in eine Absperrung, um ihre Personalien aufzunehmen – um das zu verhindern, ­bilden die Umweltschützerinnen und Umweltschützer eine Sitzblockade. Letztlich dürfen dann doch die meisten von ihnen den Weg ins fünf Kilometer entfernte Camp von »Ende Gelände« antreten, ohne ihre Personalien ab­zugeben.

Das Camp ist 20 Kilometer vom Tagebau entfernt, liegt auf dem Grund ­eines Biobauern und gleicht einem Festivalgelände. Bunte Zelte stehen hinter einem Kuhstall, Maleranzüge werden für die Aktionen am Sonntag ausgegeben und der Duft von gebratenem Reis und Gemüse liegt in der Luft. Überall bereiten sich Gruppen auf die Demonstrationen am nächsten Tag vor.
Hier formieren sich auch die sogenannten Finger, die wie in den Jahren zuvor aus der geplanten Großdemonstration ausbrechen und RWE-Maschinen besetzen wollen. »Wir wollen Kohle­infrastruktur von RWE blockieren, zum Beispiel die Schienen der Kohlebahn«, erklärt Philip, der im Camp die Presse betreut.

Ein Teil des »goldenen Fingers« machte sich in der Nacht zum Samstag auf den Weg zum Tagebau Hambach auf, um einen Bagger zu besetzen. Mit dabei war auch der Fotojournalist ­Jannis Große, der im Auftrag des Magazins Bento die Aktion begleitete. Obwohl er sich bei der Polizei mehrfach als Pressevertreter zu erkennen gegeben habe, habe ihn die Polizei wie einen Demonstranten behandelt, sagt er später im Interview mit der Taz. Zehn Stunden habe er mit anderen Gefangenen in Gewahrsam sitzen müssen, ­seine Kamera und die Bilder darauf seien beschlagnahmt worden.

 

Ausbruch mit Gebrüll


Am Samstagmorgen treffen sich die Menschen zur Solidaritätsdemons­tration mit »Ende Gelände« an der »Hambi Mahnwache«, direkt am ­gefährdeten Waldstück. Etwa 1 500 Menschen warten auf die Ankunft des ­»pinken Fingers«, der sich der Demonstration anschließen will. Als die Gruppe an der Mahnwache ankommt, wird sie von den Wartenden mit Jubel und ­Gesang begrüßt und der Demonstrationszug setzt sich in Bewegung.

Im »pinken Finger« marschiert auch John mit. »Wir müssen jetzt etwas tun, auch damit die Medien etwas davon mitbekommen. Das geht mit radikalem Protest besser als mit lieben Worten«, sagt er. Wie dieser Protest aussieht, zeigt sich kurz vor Morschenich. Auch dieses Dorf soll den Baggern von RWE zum Opfer fallen. Die Demonstrierenden im »pinken Finger« zünden Rauchtöpfe und brechen unter lautem Geschrei aus dem Demonstrations­zug aus. Die Polizei scheint von der ­Aktion überrascht und kann dem Ausbruch zuerst nur fünf berittene Beamten entgegensetzen. Daraufhin streben die Protestierenden des »pinken Fingers« auseinander und laufen um die Beamten zu Pferd herum in Richtung eines kleinen Waldstücks. Es geht kreuz und quer über Felder, immer wieder umlaufen die Demonstrierenden die Polizeiketten. Dabei nutzen sie mit­gebrachte Strohsäcke. Diese werden vor den eigenen Körper gehalten, um die Wucht des Aufpralls gegen eine Polizeikette zu verringern. Zudem bekommen die Polizisten manchmal nur den Strohsack zu fassen, wenn sie Demons­trierende herausgreifen wollen.

Schließlich erreicht die Gruppe aus etwa 2 000 Menschen ein Waldstück. Die zuvor getroffene Vereinbarung, dass es beim Ausbruch des »pinken Fingers« gewaltlos zugehen soll, halten alle Beteiligten ein. Als der Demonstrationsblock im Slalom immer wieder eine Landstraße überquert, schlägt ein schwarz gekleideter Mann jedoch die Spiegel von Polizeiautos ab.
Im Wald laufen die Demonstrierenden des »pinken Fingers« plötzlich in eine Polizeikette. Die Polizistinnen und Polizisten rücken dicht zusammen und verbieten den Pressevertretern kurzzeitig den Durchgang. Eine Journalistin bekommt einen Schlag ins Gesicht, als sie sich der Polizeikette nähert. Als eine Demonstrantin an einem Polizisten vorbeiläuft, schlägt dieser ihr von hinten mit der Faust auf den Kopf. Trotz des harten Einsatzes schafft es die Polizei nicht, die Menschen des »pinken Fingers« aufzuhalten. Etwa 2 000 Menschen haben es aus dem Wald geschafft und gehen über ein letztes Feld ihrem Ziel entgegen, der Hambachbahn.

 

Lahmlegen und festketten

Die Bahnstrecke versorgt zwei angrenzende Kraftwerke mit Kohle aus dem Tagebau Hambach – ist sie länger außer Betrieb, kommt die Kohleverstromung zum Erliegen. Deshalb ist die Bahn ein zentrales Blockadeziel von »Ende Gelände«. Sie wird am Samstag an zwei Stellen besetzt. Die Menschen auf den Gleisen haben gute Laune – sie ziehen sich um, singen, einige tanzen. Ein Mann hat ein Didgeridoo dabei und spielt »Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad« und eine sehr schiefe Version von Celine Dions »My Heart Will Go On«.

Die Demonstrantin Nelli erklärt, warum die gute Laune so wichtig für den Erfolg sei: »Eine ganz wichtige ­Fähigkeit, die man für so eine Besetzung braucht, ist, dass man immer wieder versucht, seine Gelassenheit zurückzugewinnen und sich selbst in einen ­ruhigen und auch fröhlichen Zustand zu versetzen. Denn es ist ganz schön anstrengend und manchmal auch ­beängstigend, da ist es dann gut wenn man es schafft, sich selbst zu ermu­tigen.«

Die Polizei scheint nicht auf diese Aktion vorbereitet zu sein, einzelne Polizeigrüppchen stehen an der Böschung und schauen dem bunten Treiben auf den Schienen zu. Die Besetzerinnen und Besetzer holen Rettungsdecken heraus und bereiten sich auf eine nächtliche Besetzung vor; nachts werden die Tiefsttemperaturen nur knapp über dem Gefrierpunkt liegen.

Als es dunkel wird, stellt die Polizei Baustrahler auf. Die Besetzerinnen und Besetzer nehmen dies mit Humor und feiern auf den Schienen der Hambachbahn eine Party unter freiem Himmel – und mit heller Beleuchtung. In der Nacht bleibt es weitgehend ruhig. Am Sonntagmorgen geben viele Menschen die Besetzung freiwillig auf und ziehen in einer großen Abschluss­demonstration zurück zum Camp von »Ende Gelände«. Einige bleiben jedoch auf den Schienen, manche haben sich an Rohre unter den Schienen gekettet.

»Dieses Anketten mit sogenannten Lock-ons oder überhaupt sich zu befestigen an solchen Anlagen, ist eine Straftat, und das wollten wir auf jeden Fall verhindern«, sagt Paul Kemen, der Pressesprecher der Aachener Polizei. Die Polizistinnen und Polizisten greifen hart durch und räumen die Blockade unter dem Einsatz von Schmerzgriffen. Die Festgenommenen werden mit ­einem RWE-Zug zu einem Bahnhof gebracht, von dem aus sie in die ­Gefangenensammelstellen in Aachen und Brühl gefahren werden. Nach 28 Stunden sind die letzten Menschen von den Gleisen entfernt.

Das Bündnis »Ende Gelände« feiert das gesamte Aktionswochenende als großen Erfolg. »Ein siegreiches Wochenende für David gegen Kohliath«, heißt es auf Facebook. Auch wenn die Kohleproduktion nicht zum Erliegen gekommen ist, da RWE Kohlevorräte in den Kraftwerken gelagert hat und kurz­fristig nicht auf die Versorgung durch die Hambachbahn angewiesen ist, ­waren die Proteste vom Wochenende bislang der Höhepunkt der noch jungen Bewegung für den Kohleausstieg. Über 6 500 Menschen haben an diesem Wochenende ­gezeigt, dass sie zu zivilem Ungehorsam bereit sind, um ein sofortiges Ende der Braunkohleverstromung zu erreichen. 50 000 Menschen kamen zur Großdemonstration. Einer Umfrage von Emnid zufolge sprechen sich 75 Prozent der Deutschen für den Erhalt des Hambacher Waldes aus.

Johannes mit dem Zauberermantel plant schon sein weiteres Engagement: »Bislang gab es wenig Verbindungen zwischen den umgesiedelten Menschen und uns als Bewegung. Das ist ein Punkt, an dem wir ansetzen können.« Denn auch, wenn kein Aktions­wochenende sei, müsse man sich als ­Bewegung mit den Betroffenen von Dorfräumungen und Rodungen zugunsten der Kohleförderung solidarisieren.