Das »Treffen in Tunix« von 1978 in Westberlin

Von wegen die tun nix

Das »Treffen in Tunix« fand vom 27. bis 29. Januar 1978 in Westberlin statt und verfolgte das Ziel, mit undogmatischen Linken, die sich weder mit den maoistischen K-Gruppen noch mit den sozialistischen Organisationen identifizierten, eine Gegenkultur zu etablieren. Rund 15 000 Teilnehmer nahmen an den Diskussionsveranstaltungen in der Technischen Universität (TU) teil. Infolge des Tunix-Kongresses kam es zu einer Vielzahl von Projektgründungen in der Frontstadt und der ganzen Bundesrepublik, weshalb das Treffen als Geburtsstunde der Alternativbewegung gilt. Mit dem nun am Berliner HAU Hebbel am Ufer stattfindenden Kongress »Wiedersehen in Tunix!« soll die Alternativ- und Projektkultur aus heutiger Sicht bewertet werden.

Der sagenumwobene Tunix-Kongress fand 1978 in Westberlin statt und lebt bis heute in der Literatur fort. »Drei Wintertage lang beherbergten die Betonburgen der TU am Ernst-Reuter-Platz einen Marktplatz bunter Aussteigerphantasien – von der Landkommune über die Pilz-Trip-Therapie bis zum selbst gefangenen Fisch an den Stränden der Algarve. Die ›­alternative‹ Bewegung konstituierte sich offiziell als Subkultur«, heißt es in Philipp Felschs Buch »Der lange Sommer der Theorie«.

Es sollen bis zu 20 000 Menschen vor allem aus der Szene der Spontis gewesen sein, die der Einladung nach Westberlin folgten. Das Programm umfasste die Themen Feminismus, Ökologie, Lesben- und Schwulen­politik, alternative Bildungsmodelle, Knast- und Psychiatriekritik bis zu einer linken Gegenöffentlichkeit. Bei einer Demonstration wurde eine BRD-Flagge durch den Dreck gezogen und verbrannt, zudem wurden ein paar Scheiben eingeschmissen. Das Wichtigste waren aber wohl die Projekt- und Inititativentreffen auf dem Kongress. In der Folge entstanden die Christopher-Street-Day-Paraden, die Taz und die Partei Die Grünen wurden gegründet.

Die linke Projektkultur hat die Welt verändert. Die Frage ist nur, wie. Denn während andere Linke mit ihren Strategien offensichtlich scheiterten, sind die Alternativen durchaus erfolgreich gewesen.

Die Zeit der neuen sozialen Bewegungen war angebrochen. Der umtriebige Merve-Verlag hatte die französischen Theore­tiker Michel Foucault, Félix Guattari und André Glucksmann eingeladen. Der Sound der Theorie änderte sich. Statt negativer Dialektik war nun fröhlicher Positivismus gefragt.

Man muss den Tunix-Kongress und die Entstehung der Alternativbewegung als einen Wendepunkt der bundesrepublikanischen Linken begreifen. Einerseits löste man sich von den sogenannten Dogmatikern, den K-Gruppen, die explizit nicht ­erwünscht waren. Mit der Idee des Umsturzes, dem Konzept des bewaffneten Kampfs war man sowieso in einer Sackgasse gelandet. Der ehemalige Hitlerjunge und Oberleutnant der Wehrmacht sowie damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) hatte seine Ankündigung, dass der Staat mit aller Härte auf die RAF und ähnliche Gruppierungen reagieren werde, wahr gemacht – und nicht nur das. Radikalenerlass, Berufsverbote, asionsmaßnahmen zeigten neben der Hetze gegen sogenannte Sympanthisanten ihre Wirkung. Im »Deutschen Herbst« ging mit der Ermordung des ehemaligen Waffen-SS-Untersturmführers und damaligen Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und den Toten in Stammheim das zu Ende, was Gerd Koenen das »rote Jahrzehnt« nannte. Politisch war der linke Aufbruch nach 1968 zum Stillstand gekommen.

Auch das Verhältnis zu politischer Theoretie änderte sich. Der noch von Theodor W. Adorno vorgegebene und durch seine Schülerin Elisabeth Lenk 1962 im SDS erneuerte Anspruch, dass man sich vor allem der Theoriearbeit widmen müsse, um die Widersprüche des Spätkapitalismus zu verstehen und nicht vor ihnen zu kapitulieren, war passé. Allzu lang hatte man sich durch die blauen Bände und die Eiswüste der Abstraktion gequält und in dialektischen Figuren die im Politischen zur Verwaltung und im Privaten zur Verdinglichung gesteigerte Herrschaft aufgespürt. Statt dialektischen Widersprüchen, statt Negativität und Unversöhnlichkeit war nun die Rede von Diskursen und Narrativen, die Figur des Intellektuellen selbst war verdächtig geworden.

Was man zu sagen hatte, wollte man selbst sagen – wofür dann noch Theorie? Man wollte doch Projekte machen. Im Ankündigungstext reimte man sich das so zusammen:
»Wir woll’n nicht mehr immer dieselbe Arbeit tun, immer die gleichen Gesichter zieh’n. Sie haben uns genug kommandiert, die Gedanken kontrolliert, die Ideen, die Wohnung, die Pässe, die Fresse poliert. Wir lassen uns nicht mehr einmachen und kleinmachen und gleichmachen. Wir hauen alle ab! … zum Strand von Tunix.«

Da bekanntlich jedem Anfang – auch dem vom Abschied von der Revolution – ein Zauber innewohnt, löste das einige Euphorie aus. Zwar beschwor man noch den ultralinken hedonistisch angehauchten Maximalismus – »Wir wollen alles und wir wollen es jetzt!« –, aber erklärtermaßen wollte man nur zum »Strand von Tunix« fliehen. Und dort? »Unseren Geigen, Gitarren und Celli ziehen wir andere Saiten auf und ­spielen Kein schöner Land als dieser Strand«, hieß es in der Einladung. Die Alternativen als eine Unser-Land-soll-schöner-werden-Bewegung? Das mag man nicht nur angesichts der gegenwärtigen Entwicklung der Grünen zur konservativen Kleingärtnerpartei für Bessersituierte für plausibel halten. Kritiker wie Wolfgang Pohrt warfen den Alternativ­bewegten schon damals vor, sich eine Welt zurechtzulügen und beispielsweise mit dem Schlagwort von der Gewaltfreiheit nur über die realen Gewaltverhältnisse hinwegzutäuschen.

Bekannt geworden ist die Rede von den zwei Kulturen. Der Westberliner Wissenschaftssenator Peter Glotz (SPD) sprach auf dem Tunix-Kongress von einer offiziellen und einer alternativen Kultur. Dies entsprach dem Wunsch nach der Begründung einer Gegenkultur, nachdem sich in der Zeit nach 1968 gezeigt hatte, dass die Arbeiterschaft infolge des Godesberger Programms der SPD und der sogenannten Sozialpartnerschaft der Nachkriegs-BRD die bürgerliche Kultur als die herrschende anerkannte und sich auf das ideologische Konstrukt der Mitte, der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« (Helmut Schelsky), festlegen ließ. Doch die Gegenkultur ist sehr viel schneller als erwartet ein Segment der offiziellen geworden. 20 Jahre später zeigte sich das eindrucksvoll: »Mit Rot-Grün, mit Schröder und Fischer an der Macht, hatte sich der Traum von der Gegenöffentlichkeit dann endgültig erledigt: Deren Akteure waren nun Teil des breiter gewordenen Spektrums von Öffentlichkeit geworden. Bei aller Phantasie: Das hätten wir uns auf dem Tunix-Kongress 1978 nicht träumen lassen«, stellte Taz-Mitbegründer Max Thomas Mehr fest. Was nicht von der Regierungspolitik adaptiert wurde, verwertete die Kulturindustrie – radical chic wurde zur Marke.