Louis Althusser war der letzte, dem es in seinem Denken um die gesellschaftliche Totalität ging

Rigoroser Wahrheitsanspruch

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Althusser widmete sich konsequenterweise einer Theorie des Staats, der konkreten Totalität, und dessen Reproduktion der Produk­tionsbedingungen über »Ideologie und ideologische Staatsapparate«. Aber dieses Projekt sollte sich für die Ansprüche der politischen Praxis als unbrauchbar erweisen. Umso mehr, da Althusser zur Mitte der sechziger Jahre anfing, die Studierenden für ihre spontaneistische Ideologie zu kritisieren, und sie versuchte zu korrigieren. Sein Beharren auf der übermächtigen Totalität und der ­Kategorisierung jeder Praxis, als Ideologie die ihren Zusammenhang damit nicht reflektiert, galt nunmehr als praxisfeindlich. Die Aufbruchsstimmung des Mai 1968 ­verlangte eine Affirmation des Protests und der Barrikaden. Althussers Marxismus wurde als Bevormundung der subversiven Subjekte zurückgewiesen und stand schnell im Verdacht, selbst nur autoritäres ­Denken zu sein. Die antiautoritäre Rebellion richtete sich daher nicht mehr gegen eine schlechte Totalität des kapitalistischen Staats, sondern zuvorderst gegen die vermeintlich schlechte Theorie der Totalität.

Althusser hatte versucht, den Erkenntnisanspruch des Marxismus zu retten. Die enttäuschte Abwendung von ihm war zum Ende der sechziger Jahre daher so endgültig wie symptomatisch. Sein ehemaliger Schüler und Vordenker der radikalen Bewegungslinken, Jacques Rancière, rekapitulierte etwa, dass der »Althusserianismus auf den ­Barrikaden des Mai 1968 gestorben« sei. Man hatte den Marxismus als Teil eines autoritären Wissens entlarvt und dadurch wurde der Weg frei für eine vermeintlich radikalere Kritik. Ging denn in Wahrheit die Schlechtigkeit der Welt nicht weit über den Staat hinaus und musste grundlegender, sprich subjektiver, ­zurückgewiesen werden?

Das fragte sich etwa Michel Foucault, dem es schon herrschaftskritisch vorkam, Macht als eine neutrale und pro­duktive Wechselwirkung zu denken. Foucault proklamierte, dass das ­Wissen selbst machtförmig sei, und traf damit den Nerv jener vom Marxismus enttäuschten Linken, die sich vom rigorosen Wahrheitsanspruch Althussers in die Ecke gedrängt sahen. Etwa Jacques Derrida, der zwar mit dem emanzipatorischen Anspruch des Marxismus sympa­thisierte, aber dem »der Diskurs zu erdrückend« war.

Entsprechend der praktischen Anforderungen veränderte sich die Theorie. Foucault verwarf den Marxismus, ohne sich die Mühe gemacht zu haben, sich mit dessen Erkenntnisgehalt auseinanderzusetzen. Für ihn war dieser schlicht Teil des Establishments, das »wie ein Fisch im Wasser des abendländischen Denkens« schwamm. Eine solche Haltung ermöglichte einen maximal radikalen Habitus bei minimaler praktischer Konsequenz. Die große Pointe der Foucault’schen Macht­analyse ist, dass die eigene Subjektivität machtförmig hergestellt werde und man genau dort Widerstand leisten könne – jederzeit und überall. Die Bedingung dieses subversiven Versprechens ist ein theoretisches Bekenntnis, das in den folgenden Jahrzehnten als »das Politische«, als Kontingenz oder Antiessentialismus in die Philosophiegeschichte einging. Es ist nichts weniger als die aktive Abkehr von einer revolutionären Perspektive und ihrer Theorie des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs.

Dies ist das Erbe, das bis heute die Grundlage emanzipatorischer ­Theorie bestimmt, vom Poststrukturalismus über Postmarxismus bis in die Sozialphilosophie. In der Rekons­truktion lässt sich erkennen, dass diese Verschiebung ihre historische Berechtigung hat, dass es keinen Mai 1968 und keine damit verbundene Emanzipation ohne den tiefen Bruch mit dem Marxismus gegeben hätte. Allerdings hat sich der Kontext natürlich grundlegend geändert. Niemand hat heute mehr Angst vor dem erdrückenden Diskurs des ­monolithischen Marxismus, der alle Differenzen plattzuwalzen droht und aus dessen Zwangskorsett man sich freikämpfen müsse. Angesichts des umfassenden reaktionären Backlashs und des Gesamtzusammenhangs der globalen Krise rücken ganz andere theoretische Herausforderungen in den Vordergrund, so dass das Beharren auf der grund­legenden Unbestimmtheit der Gesellschaft ahnungslos wirkt. In Alt­hussers praktischem Beharren auf der Notwendigkeit einer Theorie der gesellschaftlichen Totalität findet sich für diese Probleme natürlich keine Lösung, aber vielleicht ein Ansatzpunkt, die blinden Flecken ­gegenwärtiger linker Theorie und Praxis genauer zu bestimmen.