Mexikos neuer Präsident verspricht die Aufklärung des Falls der 43 vermissten Studenten aus Ayotzinapa

Vermisste Aufklärung

Eine Wahrheitskommission soll Zweifeln an der offiziellen Version der mexikanischen Staatsanwaltschaft nachgehen.

Mexiko-Statdt. Es ist nur ein erster Schritt, aber er weckt neue Hoffnungen bei den Familien der 43 vermissten Studenten von Ayotzinapa. Mexikos neuer Präsident Andrés Manuel López Obrador unterzeichnete am 3. Dezember ein Dekret zur Einrichtung einer Wahrheitskommission, die aufklären soll, was genau in der Nacht vom 26. zum 27. September 2014 in Iguala im Bundesstaat Guerrero geschah. Der Unterzeichnung im mexikanischen Nationalpalast wohnten zahlreiche Angehörige der Vermissten bei. Die vermissten Studenten waren Teil einer größeren Gruppe, die Busse gekapert hatte; mit diesen wollten die Hochschüler nach Mexiko-Stadt zur jährlichen Gedenkdemonstration anlässlich des Massakers von Tlatelolco von 1968 fahren. Der­artige Aktionen haben Tradition an der stark politisierten Hochschule von ­Ayotzinapa, die vor allem Studierende aus ärmeren, ländlichen Gegenden Guerreros besuchen. Die lokale Polizei ging mit ungewöhnlicher Härte gegen die Busentführer vor. Im Laufe der Nacht erschoss sie sechs Menschen, darunter drei der Studenten und drei Angehörige einer Sportmannschaft, die ebenfalls in einem Bus unterwegs waren. Einem Teil der Studenten gelang die Flucht. Die Spur ihrer 43 vermissten Kommilitonen verliert sich, nachdem diese festgenommen und in Polizeifahrzeuge verladen wurden.

»Ich versichere Ihnen: Es wird keine Straflosigkeit mehr geben. Weder in diesem traurigen Fall noch in anderen«, versprach López Obrador nach der Unterzeichnung des Dekrets. Angehörige begleiten den Akt mt Rufen: »Lebend haben sie sie genommen. Lebend wollen wir sie wiederhaben!«

Das Dekret begründet die Notwendigkeit der Kommission auch mit Zweifeln am offiziellen Ergebnis der Ermittlungen, das die mexikanische Generalstaatsanwaltschaft bereits im ­November 2014 vorgestellt hat. Der Staatsanwalt Jesús Murillo Karam präsentierte damals vermeintliche Mitglieder des Drogenkartells Guerreros Unidos, die gestanden hatten, die Studenten auf einer Müllhalde in der ­Gemeinde Cocula, Guerrero, ermordet und verbrannt zu haben.

Forensiker ­einer unabhängigen Expertengruppe (GIEI) im Auftrag der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte bezweifelten diese Version. Auf der Müllhalde könne keine Verbrennung von 43 Körpern stattgefunden haben, schlossen die Experten in ihrem Bericht. Im Juni 2018 veranlassten Gerichte die Freilassung von vier Verurteilten und meldeten erhebliche Zweifel an 15 weiteren Geständnissen im Fall Ayotzinapa an. Die Geständnisse seien unter Folter zustandegekommen.

Dennoch beharrte die Regierung von López Obradors Vorgänger Enrique Peña Nieto bis zum Ende ihrer Amtszeit auf dem offiziellen Ermittlungsergebnis. In einer Regierungserklärung im August 2018 sprach Peña Nieto weiterhin von einem »Thema lokaler Bedeutung des Bundesstaats Guerrero«, das aufgrund des Leids der Angehörigen nationale Aufmerksamkeit erlangt habe, aber bereits aufgeklärt sei. Eine Untersuchung der Beteiligung der ­Organe des Zentralstaats, wie etwa des bei Iguala stationierten 27. Infanteriebataillons und der mexikanischen Bundespolizei, blieb aus. Die Familien der Studenten, die seit Jahren auf die Ergebnisse der GIEI verweisen, fühlten sich bislang herablassend behandelt und übergangen. »In jeder Instanz hat man uns lächerlich gemacht und unterdrückt«, sagt María Martínez, die Mutter von Miguel Ángel Hernández Martínez, einem der 43 Studenten. Während der Veranstaltung im Nationalpalast saß sie direkt neben López Obrador auf dem Podium. Die neue Regierung ist bemüht zu zeigen: Ab jetzt wird alles anders.

Dass sich der neue Präsident positiv auf die Studien der GIEI bezieht und die offizielle Version der mexikanischen Staatsanwaltschaft in Frage stellt, ist für die betroffenen Familien eine wichtige Zäsur. Angesichts der bisherigen Erfahrung mit den mexikanischen Behörden hofften sie dennoch auf eine erneute Einbeziehung internationaler Organisationen. »In Mexiko stehen wir vor verschlossenen Türen«, so Martínez. Der Präsident kündigte an, um die erneute Mitwirkung der Interamerikanischen Kommission und des UN-Hochkommissars für Menschenrechte zu ersuchen. Die Wahrheitskommission solle aus unabhängigen Experten, Vertretern der Familien und der Regierung bestehen. Zudem werde sie über eine mögliche Übergangsjustiz beraten. Diese könnte etwa Strafmilderungen und Zeugenschutzregelungen für jene Beteiligten des Verbrechens in Aussicht stellen, die einen wichtigen Beitrag zu seiner Aufklärung leisten.

Luis Ernesto Vargas, der Sprecher der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte für den Fall Ayotzinapa, sprach von einem »phänomenalen Wandel« im Vergleich zur Politik der Vorgängerregierung. Wie weit sich der Fall jedoch nach vier Jahren noch aufklären lässt, ist offen. Bereits 2015 war die internationale Expertengruppe bei ihren Ermittlungen auf Hürden gestoßen, die erhebliche Vertuschungs­bemühungen bis in die höchsten Ebenen der mexikanischen Justiz nahe­legen. Nicht nur waren falsche Geständnisse erzwungen worden, es waren auch unter anderem Kameraaufnahmen verschwunden und wichtige Zeugen nicht ausfindig zu machen. Auch wird einer der fünf Busse, mit dem die Studenten unterwegs waren, weiterhin vermisst. Bei dem von der mexikanischen Staatsanwaltschaft als Beweismittel präsentierten Fahrzeug handele es sich nicht um denselben Bus, den die Studenten nutzten, schlossen die Experten. Vier Jahre später dürften sich neue Ermittlungen keineswegs einfacher gestalten.

Dennoch erhoffen sich die Anwälte der betroffenen Familien Zugang zu bisher unter Verschluss gehaltenen Informationen. Unter anderem verpflichtet das Dekret staatliche Einrichtungen zur Offenlegung aller relevanten Dokumente für die Ermittlungen. Dazu könnten auch Berichte und Dokumente des 27. Infanteriebataillons und des Verteidigungsministeriums gehören, die bisher zurückgehalten wurden.

Die Angehörigen der Vermissten fordern, dass die Ermittlungen nun an die Empfehlungen des Berichts der GIEI anknüpfen. Unter anderem hatte diese eine genauere Untersuchung der Verwicklung der Bundespolizei und der Armee in den Fall nahegelegt. Ebenso müsse untersucht werden, ob die Studenten unwissentlich Fahrzeuge gekapert hatten, die vom organisierten Verbrechen zum Transport von Drogen verwendet wurden. So könnte in einem der gekaperten Busse Heroin versteckt gewesen sein. Iguala liegt in einem wichtigen Transportkorridor von Heroin in die USA.

Ayotzinapa sei ein Fall in einer langen Reihe ungeklärter Menschenrechtsverbrechen, merkte Martínez in ihrer Rede an: »Es sind nicht nur unsere 43 Kinder. Es gibt Tausende weitere Familien, denen ein Angehöriger fehlt.« Nach offiziellen Angaben gelten rund 37 000 Menschen in Mexiko als vermisst.

Vergangene Woche bestätigte López Obrador, dass die Wahrheitskommis­sion in der ersten Januarhälfte ihre Arbeit aufnehmen werde.