Eine linke Tagung in Ramallah versucht, bei Marx Argumente gegen Israel zu finden

Warenform und Westbank

Ein Bericht der Tagung »Karl Marx: Der unzeitgemäße Zeitgenosse« in Ramallah.

Kurz vor Ablauf des Jubiläumsjahres gab es eine weitere Veranstaltung in der langen Reihe der Symposien, Buchveröffentlichungen und Ausstellungen anlässlich des 200. Geburtstages von Karl Marx. Ungewöhnlich war die Wahl des Ortes der Konferenz: Rund 100 Teilnehmer und Teilnehmerinnen trafen sich vergangene Woche zu der Tagung »Karl Marx: Der unzeitgemäße Zeitgenosse« in Ramallah. Dabei ging es nicht darum, Marx’ Geburtstag zu feiern. Vielmehr sollte – wie es im Ankün­digungstext heißt – drei Tage lang die »gegenwärtige politische Relevanz von Marx im Kontext von Palästina« diskutiert werden. Damit knüpfte die Tagung an die Konferenz »Walter Benjamin in Palestine. On the Place an Non-Place of Radical Thought« an, auf der 2015 antizionistische Intellektuelle wie Slavoj Žižek, Judith Butler und Alain Badiou referierten und diskutierten. Ramallah soll ­offenbar als Standort der akademischen »Israelkritik« etabliert werden  – mit kräftiger Unterstützung deutscher Institutionen. Beide Tagungen wurden vom Goethe-Institut Ramallah in Partnerschaft mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung, dem Khalil Sakakini Cultural Center und der Birzeit University ausgerichtet. Auch die Leuphana-Universität Lüne­-
burg gehörte in diesem Jahr zu den Partnern.

Die Benjamin-Tagung 2015 war als Gegenveranstaltung zur Jahres­konferenz der Internationalen Walter-Benjamin-Gesellschaft in Jerusalem konzipiert. Israelische Teilnehmer und Teilnehmerinnen waren damals wie heute in Ramallah nicht erwünscht. Ziel der Konferenz war es, unter mit Hilfe von Benjamins Studie »Zur Kritik der Gewalt« den »Siedlungskolonialismus« und die »Apartheids- und Besetzungspolitik« Israels zu verurteilen. Mit Marx stand in diesem Jahr erneut ein deutscher Philosoph auf dem Programm, der aus einer jüdischen Familie stammte. Aber so zynisch wie die Vereinnahmung des auf der Flucht vor den ­Nazis gestorbenen Walter Benjamin für das antizionistische Projekt war die diesjährige Konferenz nicht angelegt.

Diesmal sollte Marx’ Theorie auf ihr Potential für den palästinensischen Widerstand befragt werden. Das konnte allerdings nicht wirklich gelingen. Denn zum einen waren die beiden Stargäste, die US-amerikanische Theoretikerin Jodi Dean und der deutsche Politikwissenschaftler Michael Heinrich, viel zu wenig mit dem Palästina-Konflikt vertraut, um überhaupt zu bemerken, wo sie parteiisch und politisch vereinnahmbar sind. Zum anderen gibt Marx’ Gesellschaftstheorie für die Kritik des israelischen Staates schlichtweg wenig her.

Unklar bleibt, warum ausgerechnet Marx zu Fragen kolonialer Herrschaft herangezogen wird. Der junge Marx begrüßte die Verdrängung vorkapitalistischer Wirtschaftsformen durch den Kolonialismus.

Michael Heinrich, dessen Einführungsbuch zum »Kapital« vielen deutschen Linken den Zugang zu Marx erleichtert hat, eröffnete die Konferenz mit einem zwar beein­druckend detailreichen, doch rein historisch-philologischen Vortrag. Unter dem Titel »Who is Marx? The Challenge of Writing Marx’s Political and Theoretical Biography« stellte er die vierbändige Marx-Biographie vor, an der er gerade arbeitet. Während Heinrich argumentierte, dass man Marx nur dann richtig verstehen könne, wenn man seine Texte als politische Interventionen in einem historischen Kontext liest, schien er den Kontext, in dem er selbst sprach, vergessen zu haben. Bei einem Close-Reading-Workshop am nächsten Abend erläuterte er Marx’ Kritik an ökonomischen Theorien, die den Wert der Waren aus ihrer Nützlichkeit erklären wollen, am Beispiel von Wasser. Während Wasser essentiell für das menschliche Leben und daher sehr nützlich sei, seien Diamanten weniger nützlich und doch wertvoller. Immer wieder kam er auf das Wasser zurück, ohne zu bemerken, dass Wasserknappheit für das palästinensische Publikum eine politische Frage ist. Auch auf Nachfragen hielt sich Heinrich streng an seine philologischen und biogra­phischen Auslegungen von Marx. Das hatte einen gewissen Charme. Auf die Frage eines Teilnehmers, ob man Marx’ Abkehr vom Judentum als antizionistisches Statement deuten könne, antwortete Heinrich trocken, Marx sei im Alter von sechs Jahren getauft worden.

Die US-Amerikanerin Jodi Dean, die in Deutschland vor allem als Autorin von »Der kommunistische Horizont« bekannt ist, wich solchen Fragen ­völlig aus. Kein Wunder, denn in einem Pausengespräch gab sie mir gegenüber zu: »I don’t know a thing about Palestinian politics.« Sie habe nicht einmal genug in Erfahrung bringen können, um in ihrem Vortrag auf den Palästina-Konflikt Bezug nehmen zu können. In ihrer Keynote »Marx and Revolution Today« sprach sie sich gegen »Identitätspolitik« und für eine Orientierung der internationalen Linken an Klassenfragen aus und erwähnte den israelisch-arabischen Konflikt mit keinem Wort. Das eingestandene Unwissen hielt sie jedoch nicht davon ab, wenige Stunden später einen Tweet abzusetzen, in dem sie einen Angriff einer Gruppe palästinensischer Jugendlicher auf abziehende israelische Militärfahrzeuge kommentierte: »Power to the people!«

Während Dean an der Birzeit University referierte, durchsuchte die israelische Armee die Stadt nach einem palästinensischen Attentäter, der am Abend zuvor sieben Siedler und Siedlerinnen angeschossen hatte, darunter eine junge Schwangere, deren Kind die Verletzungen nicht überleben sollte. Der Schütze wurde einige Tage später von einem israelischen Soldaten erschossen. Zunächst jedoch war die Lage unübersichtlich. Rauchbomben, Tränengas und Steine flogen. Unser Taxifahrer umfuhr Straßenschlachten, die wir sonst nur aus dem Fernsehen kennen.

Dieser Vorfall wurde in den Gesprächen mit palästinensischen Tagungsteilnehmern und -teilnehme­rinnen zum wiederkehrenden Thema. Sie argumentierten, dass das Ver­halten der Armee der sichtbare Beweis für die koloniale Herrschaft ­Israels sei. Ihre Wut und Frustration kann ich verstehen, doch widersprach ich immer wieder. »Ja, die rechtliche und soziale Diskrimi­nierung arabischer Israelis ist ungerecht und falsch.« »Aber nein, ich denke nicht, dass Israel ein Apartheidstaat ist.« »Ja, ich habe gerade erfahren, wie übermächtig die israelische Armee ist.« »Aber nein, ich kann den Terrorismus der Hamas nicht befürworten.« »Ja, ich sehe, dass die Siedlungen eine Landnahme bedeuten.« »Aber nein, ich halte Israel keineswegs für ein westliches Kolonial­projekt.«

Der Bezug zum Kolonialismus war auf der Konferenz überall gegen­wärtig. Am deutlichsten wurde dies bei der Abschlussveranstaltung in den Räumen der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Salman Fakhrdein, ein wahrhaft unzeitgemäßer Zeitgenosse von den Golanhöhen mit rotem Stern auf der Mütze und Sympathien für Lenin, eröffnete den Round Table »Marx and Settler Colonialism«. Fakhrdein versprach, in seinem Vortrag Marx’ und Rosa Luxemburgs Analyse des Kolonialismus für die Kritik des »israelischen Siedlungs­kolonialismus« produktiv zu machen. Die »Kolonialismuskritik« fiel allerdings ebenso pathetisch wie wirr aus: In Wahrheit hätten die Juden von den Palästinensern gelernt, wie man Land bestellt. Israel setze die Sklaverei fort, weil es Arbeiter aus asiatischen Ländern importiere, die dann, weil sie mit Abschiebung bedroht würden, ohne Lohn arbeiten müssten. Israel kontrolliere die palästinensischen Ressourcen, zerstöre die lokalen Siedlungen und lasse die so abhängig gewordenen Palästinenser für sich arbeiten. Auch wenn einige von ihm aufgeführten Punkte richtig sind, blieb unklar, warum all das den Vorwurf begründen soll, Israel sei ein Kolonialstaat. Genauso unklar bleibt, warum ausgerechnet Marx zu Fragen kolonialer Herrschaft herangezogen wird.

Der junge Marx begrüßte die Verdrängung vorkapitalistischer Wirtschaftsformen durch den Kolonialismus, da er die Auflösung »aller naturwüchsigen Verhältnisse in Geldverhältnisse« als Voraussetzung für die sozialistische Revolution sah. Das wandten einige Teilnehmer und Teilnehmerinnen denn auch ein. Yazan Khalili, der Direktor des Sakakini Center, schien von Fakhrdeins Vortrag ebenfalls wenig überzeugt.
Das Publikum hatte ohnehin ganz unterschiedliche Erwartungen. Junge Frauen interessierten sich für feministische Kritiken des Marxismus, Muslime und Musliminnen für die Frage nach der Vereinbarkeit von Glauben und Materialismus, ein Marx-Lesekreis freute sich über die Mikrolektüren Heinrichs, Mathe­matiker und Mathematikerinnen fragten nach formalen Modellie­rungen der Werttheorie.

Zu dieser Gruppe gehört Bashar, ein ehemaliger Professor für Mathematik an der Bethlehem University. Bei der Abschlussparty im Goethe-Institut diskutierten wir nicht nur über Hamas und Hizbollah, sondern auch über Alltägliches. Als ich ihm in einer Diskussion über seine Einschätzung des Zionismus widersprach, warf er mir victim blaming vor. Es gehe nicht um ein richtiges oder falsches akademisches Verständnis des Kolonialismus, erklärte er, denn darauf komme es beim palästinensischen Anliegen doch überhaupt nicht an. Es sei aber doch wichtig, wie genau man das Anliegen formuliert, entgegnete ich. Je nachdem, von welchen Prämissen man ausgeht, kommt doch am Ende ein anderes politisches Ziel dabei heraus. Wer behauptet, Israel sei ein koloniales Projekt des Westens, spricht dem Staat letztlich das Existenzrecht ab. Nutzt man post- und dekoloniale Theorie hingegen mit Blick auf die Siedlungspolitik, ist das Ergebnis eine Kritik der Siedlerbewegung und der rechten Netanjahu-Regierung. Das sei doch, insistierte ich, ein Unterschied ums Ganze. Bashar nickte, darauf konnten wir uns einigen. Er ist offenbar eher bereit, sich auf Differenzierungen einzulassen als viele deutsche Linke.