Die Beziehungswelt von Protonen, Neutronen und anderen sehr kleinen Teilchen

Protonen haben Bindungsängste

Was Protonen und Neuronen miteinander treiben, wenn keiner hinsieht, wissen nur Eingeweihte und Kenner der Materie. Wie könnten sie es dennoch in ihrer Auf- und Abbeziehung bis zur Kernfusion schaffen?

Captain Proton ist einsam. Und neidisch auf die anderen Protonen in den größeren Atomkernen nebenan. Die haben Neutronen gefunden, mit denen sie wechselwirken können. Die haben es geschafft, eine dauerhafte Bindung einzugehen. Er hingegen ist seit rund 13,8 Milliarden Jahren Single.

Captain Proton ist ein Wasserstoff­atomkern, ein einzelnes Proton, die kleinste Art von Atomkernen im Universum. Alle anderen Atomkerne bestehen aus mehreren gebundenen Protonen und Neutronen – in allen möglichen Kombinationen. Das reicht vom monogamen Pärchen Deuterium mit nur einem Proton und einem Neutron über die beiden Dreier Tritium und Helium-3 bis hin zu orgiastischen Beziehungsgeflechten wie Uran-235 mit 92 Protonen und 143 Neutronen. Aber nicht alle dieser Bindungen halten ein Protonenleben lang, und nicht alle haben für Captain Proton den gleichen Reiz.

Protonen und Neutronen sind einander erstmal ziemlich egal. Ein Neutron wird von der elektrischen Ladung eines Protons weder angezogen noch abgestoßen. Die beiden könnten relativ nah aneinander vorbeifliegen, ohne überhaupt Notiz voneinander zu nehmen. Das ändert sich allerdings schlagartig, wenn sie in ihre Intimzonen vordringen.

Das Beziehungsleben der Protonen und Neutronen ist kompliziert und nicht vollends erforscht, daher lohnt für den Anfang ein Blick auf die Beteiligten. Die sind sich nämlich sehr ähnlich. Sowohl Protonen als auch Neutronen bestehen hauptsächlich aus drei kleineren Elementarteilchen, sogenannten Quarks – und zwar aus zwei verschiedenen Sorten dieser Quarks, den Up-Quarks und den Down-Quarks. Aber nicht in der gleichen Kombination: Captain Proton hat zweimal Up und einmal Down – kurz UUD –, und diese Buchstabenkombination beschreibt sein Paarungsverhalten ziemlich gut. Die von ihm so begehrten Neutronen haben ein Up-Quark weniger und dafür ein Down-Quark mehr: UDD. Es ist ein kleiner Unterschied mit einer ­großen Wirkung: Er ist positiv geladen, sie sind elektrisch neutral. Er ist stabiler als ein Fels in der Brandung, sie zerfallen meist schon, wenn man sie eine Viertelstunde allein lässt.

Da erscheint es schon wie ein kleines Wunder, dass größere Atomkerne überhaupt zusammenbleiben. Das Problem sind Captain Proton und seinesgleichen. Denn die sind alle positiv geladen, und gleiche Ladungen stoßen sich ab – je näher sie sich kommen, desto stärker. In einem Atomkern müssen Protonen aber in unmittelbarer Nachbarschaft miteinander auskommen, und – wie es so ist – ohne die Hilfe der Neutronen würde das nicht funktio­nieren. Ohne sie gäbe es keine Atomkerne mit mehreren Protonen, und damit außer Wasserstoff keine an­deren chemischen Elemente.

Dabei sind Protonen und Neutronen einander erstmal ziemlich egal. Ein Neutron wird von der elektrischen Ladung eines Protons weder angezogen noch abgestoßen. Die beiden könnten relativ nah aneinander vorbeifliegen, ohne überhaupt Notiz voneinander zu nehmen. Das ändert sich allerdings schlagartig, wenn sie in ihre Intimzonen vordringen: 2,5 Femtometer (milliardstel Millimeter) und weniger. Dann geht es los. Dann treten sie mithilfe virtu­eller Quark-Antiquark-Teilchen in Wechselwirkung und für Captain Proton heißt das, einen Teil von sich preiszugeben, um im Gegenzug ein Stück seines Gegenübers in sich aufzunehmen. Das ist ungeheuer attraktiv. Wenn ­Protonen und Neutronen erstmal damit angefangen haben, dann machen sie auch weiter – gerne auch in größeren Gruppen. Aber das Verhältnis von ­Protonen und Neutronen muss schon passen, und wenn nicht alle auf ihre Kosten kommen, folgt früher oder später ein radio­aktiver Zerfall.

Wer Protonen und Neutronen wieder auseinanderbringen will, muss sich anstrengen. Denn dafür muss die aus der Wechselwirkung resultierende Anziehungskraft überwunden werden. Und das kostet Energie. Bindungs­energie. Bei einem Atomkern mit nur einem Proton und einem Neutron ­beträgt sie etwa 2,2 Megaelektronenvolt. Und das ist nicht nur die Energie, die man braucht, um die beiden zu trennen, das ist auch die Energie, die sie frei­setzen, wenn sie zusammenkommen.

Aber wie machen die das? Eine Bindung einzugehen und dabei metaphorisch Energie freizusetzen, mag nicht so ungewöhnlich klingen, aber physikalische Energie muss schon irgendwo herkommen. Nun, Protonen und Neu­tronen haben eine faszinierende Eigenschaft: Sie nehmen in Beziehungen ab. Das heißt, sie haben als freie Teilchen mehr Masse als in gebundener Form. Und entsprechend Albert Einsteins Formel über die Äquivalenz von Masse und Energie, E=mc2, wird die Masse, die sie verlieren, wenn sie sich binden, als Energie frei. Das ist die Energie, die die Sonne antreibt, weil dort ständig kleine Atomkerne miteinander verschmelzen. Es ist aber auch die Energie, die in Kernspaltungsreaktoren auf der Erde genutzt wird, wenn sehr große Atomkerne in zwei kleinere Teile aufgespalten werden. Und um zu verstehen, wieso das in beiden Fällen funktioniert, muss man Captain Protons Vorlieben kennen.

 

Captain Proton interessiert sich nicht für die oben erwähnten 2,2 Megaelekt­ronenvolt. Er will wissen, was für ihn abfällt. Und das ist nicht die gesamte ­Bindungsenergie, sondern die Bindungsenergie pro Kernteilchen: 2,2 Megaelektronenvolt geteilt durch zwei, ein Neutron und ein Proton, das ist für ihn eine gute Eins. Und das ist einerseits besser als nichts und andererseits ganz schön wenig. Er und zwei Neutronen, Tritium, das wäre schon eine knappe Drei – aber kein Vergleich zu Helium-4 mit zwei Protonen und zwei Neutronen und einer Gesamtbindungsenergie von 28,3 Megaelektronenvolt. Das ist geteilt durch vier nämlich schon eine echte Sieben.

Helium-4 ist ein Ausreißer unter den kleinen Atomkernen, sowohl in etwas kleineren als auch in etwas größeren Kernen sind Protonen und Neu­tronen nicht so stark gebunden wie dort. Aber Captain Proton will mehr. Er würde gerne mal erleben, wie sich Kohlenstoff-12 oder Sauerstoff-16 anfühlen. Und wo er eigentlich hin will, das ist Eisen-56 mit 26 Pro­tonen und 30 Neu­tronen. Das ist für ihn eine knappe Neun und einer der am stärksten gebundenen Atomkerne überhaupt. Besser wird es nicht, denn bei noch größeren Atomkernen nimmt die Bindungsenergie pro Kernteilchen in der Tendenz wieder ab. Uran-235 etwa ist nur noch eine miese Acht, so ähnlich wie Kohlenstoff-12. Das hat zur Folge, dass die Spaltung sehr großer Atomkerne Energie freisetzt – weil die beiden Spaltprodukte stärker gebunden sind als das Ausgangsma­terial. Umgekehrt entsteht bei der Verschmelzung kleiner Atomkerne Energie, wieder weil das Produkt der Reaktion stärker gebunden ist als die Ausgangsmaterialien.
Abgesehen von der Frage, wo die Energie herkommt, unterscheiden sich Kernspaltung und Kernfusion doch sehr. Kernspaltung ist nämlich vergleichsweise einfach. Da reicht es schon, Uran-235 mit einem passenden Neu­tron zu beschießen, dann spaltet sich der Kern und setzt zusätzliche Neu­tronen frei, die wiederum andere Urankerne spalten können. Die Schwierigkeit besteht nicht darin, eine Spaltung herbeizuführen, sondern zu viele Spaltungen – eine Kettenreaktion – zu verhindern. Und wenn das auch nur für einen kurzen Moment nicht funktioniert, hat man ein Problem wie in Tschernobyl.

Kernfusion hingegen ist schwierig – und das Problem sind wieder Captain Proton und seinesgleichen. Denn die sorgen mit ihrer positiven Ladung dafür, dass sich Atomkerne gegenseitig abstoßen. Um miteinander zu verschmelzen, müssen sie aber, wie gesagt, bis auf wenige Femtometer aneinander herankommen. Und das funktioniert nur auf eine Weise: indem sie sich so rasant aufeinander zubewegen, dass sie trotz der Abstoßung nicht mehr ausweichen können. Dafür muss es sehr heiß sein, denn je höher die Temperatur, desto schneller die Teilchen. Und eng muss es sein, ein echtes Gedränge. Alle Geschwindigkeit hilft nichts, wenn überhaupt nicht genug andere Kerne in der Nähe sind. Im Inneren der Sonne ist beides gegeben: jede Menge Atomkerne auf engstem Raum bei etwa 15 Millionen Grad. Die Folge ist eine ganze Reihe von Fusionsre­aktionen und radioaktiven Zerfallsprozessen.

Eine solche Umgebung lässt sich auf der Erde nicht nachbauen. Aber für eine ganz spezielle Fusionsreaktion könnte es mit viel Geschick doch ­reichen, und die verwandelt Deuterium und Tritium in Helium-4 und ein frei­es Neutron. Das ist einerseits vergleichsweise einfach, weil sowohl Deuterium als auch Tritium jeweils nur ein Proton enthalten, und andererseits ergiebig, weil der entstehende Helium-4-Kern so stark gebunden ist. Hinzu kommt, dass das freie Neutron einen großen Teil der freigewordenen Bindungsenergie mit sich führt. Und damit lässt sich vielleicht ein Kraftwerk bauen. Captain Proton jedenfalls würde das gefallen – auch wenn er sich erstmal ein Neutron angeln muss, um an der Reaktion teilzunehmen. Aber man weiß
ja nie.