Im indischen Kolkata weht ein kosmopolitischer Geist

Aus Migration entstanden

Chinesen, Armenier, Briten, Juden aus Bagdad, Flüchtlinge aus Pakistan: Sie alle ließen sich in Kolkata nieder. Die Hauptstadt des indischen Bundesstaates Westbengalen gilt als Beispiel für die ­historische Ent­stehung des Kosmopolitismus. Doch dieser bedarf angesichts der bestehenden Probleme einer Erneuerung.
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Es ist fünf Uhr morgens. Eine milchig strahlende Sonne erscheint im Dunst über dem Subhas Sarovar Lake. Den kleinen Salzsee im Osten Kolkatas umgibt ein Park mit Hindutempeln, Spielplätzen und uralten Bäumen. Hier ist das Leben schon erwacht. Jogger drehen ihre Runden, Frauen in Saris spazieren vorbei, Hunde streunen umher und auf einem kleinen Hügel absolviert eine Seniorengruppe ihr Gymnastik­programm. Im flachen Uferwasser waschen sich Menschen. Im Westteil des Parks hocken junge Männer nebeneinander am See. Sie halten schweigend Angelruten ins Wasser. Ein Stück weiter Richtung Norden befindet sich am Ufer einer der über 5 000 Slums der Stadt. Hier wird Wäsche im See gewaschen und ein körniger Brei zubereitet, den die Fischer als Köder kaufen. Trotz der frühmorgendlichen Geschäftigkeit ist es seltsam still. Wenn nicht ab und zu die metallischen Klänge aus den Hindutempeln über den See hallten, könnte man meinen, sich in einem Stummfilm zu befinden, der von einer Zeit erzählt, als Kolkata noch Calcutta (zu Deutsch Kalkutta; die Umbenennung erfolgte 2001) hieß und die Hauptstadt Britisch-Indiens war. Dabei ist der Ostteil der derzeitigen Hauptstadt des Bundestaats Westbengalen erst in den fünfziger Jahren modrigen Salzsümpfen abgerungen und urbanisiert worden.

Der Kosmopolitismus der Stadt ist legendär und es ist viel über die transnationalen Verflechtungen der Bewohnerinnen und ­Bewohner, die liberalen Werte, den weltoffenen Geist sowie die kulturelle wie religiöse Diversität geschrieben worden, die das Zusammenleben in der Stadt seit Jahrhunderten geprägt haben.

Die Teilung Britisch-Indiens 1947 und die Unabhängigkeit der beiden neuen Staaten Indien und Pakistan führte zu einer der größten Fluchtbewegungen in der Geschichte des Subkontinents. Mehr als drei Millionen Menschen hinduistischen Glaubens wurden von den neuen muslimischen Machthabern vor allem aus Ostbengalen, dem heutigen Bangladesh, vertrieben, das bis zu den Befreiungskriegen 1971 zu Pakistan ­gehörte. Zuerst kamen gebildete bengalische Familien, die Bhadralok (»freundliche Leute«) aus Ostpakistan in das nahegelegene Kolkata. In den Fünfzigern flohen dann auch Hunderttausende Dalit (»Zertretene«), die im indischen Kastenwesen ganz unten stehen, aus Ostpakistan hierher.

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Nalini Randan Mandal zeigt eine Gedenktafel für Opfer von Polizeigewalt

Bild:
Stefanie Kron

Die Stadtregierung gründete daraufhin Bidhannagar im bis dahin unbesiedelten Osten der Metropole. In Bidhannagar, wegen der dortigen Salz­seen auch Salt Lake City genannt, befindet sich die erste am Reißbrett entworfene Ansiedlung Kolkatas. Heutzutage leben hier reiche und sehr reiche Menschen. Es gibt zahlreiche Luxuswohnkomplexe, weitläufige Erholungsparks, mondäne Fünf-Sterne-Hotels, Theater, Kinos und Forschungseinrichtungen. Eine von diesen ist die renommierte Mahanirban Calcutta Research Group (MCRG). Ein Schwerpunkt der MCRG ist die Erforschung und Dokumentation von Kosmopolitismus, Flucht und ­Migration in Kolkata. Der Kosmopolitismus der Stadt ist legendär und es ist viel über die transnationalen Verflechtungen der Bewohnerinnen und ­Bewohner, die liberalen Werte, den weltoffenen Geist sowie die kulturelle wie religiöse Diversität geschrieben worden, die das Zusammenleben in der Stadt seit Jahrhunderten geprägt haben. Die ihrerseits international sehr gut vernetzten Wissenschaftlerinnen und ­Wissenschaftler der MCRG interessiert, was vom historischen Kosmopolitismus im derzeitigen Umgang der Stadt mit Migration und Flucht übrig geblieben ist.

Eine von ihnen ist die Anthropologin Aditi Mukherjee. Ihr Thema sind die Kämpfe der Dalit-Flüchtlinge aus dem vormaligen Ostpakistan um Bürgerrechte. Aditi betrachtet das andere Gesicht von Bidhannagar, das mit Wohlstand nichts zu tun hat. Es liegt weiter im Nordosten und besteht aus ehe­maligen Flüchtlingscamps, die bis heute nicht kartiert oder mit der nötigen ­urbanen Infrastruktur ausgestattet wurden. Der vermüllte Bagjola-Kanal verläuft durch die Ansiedlungen der »Bagjola-Gruppe ehemaliger Flüchtlings­camps«. Aber es gibt auch einige asphaltierte Straßen, Geschäfte, eine Schule und hübsche kleine Häuser. In einem von ihnen empfängt uns Nalini Ranjan Mandal. Alles ist blitzsauber, Gebäck steht auf dem Tisch, vier Männer, wie Mandal alle über 70 Jahre alt, sitzen im Kreis. Sie kümmern sich seit mehr als fünf Jahrzehnten um das Zusammenleben in der Bagjola-Gruppe. Auch Hungerstreiks und Demonstrationen gegen die Polizeigewalt, für Landrechte, die urbane Entwicklung ihrer Nachbarschaften und vor allem für die indische Staatsbürgerschaft organisieren sie. »Als wir in den Fünfzigern aus Ostpaki­stan herkamen, waren hier nur Sümpfe«, erzählt Mandal. »Wir haben anfangs in leerstehenden Eisenbahnwaggons gewohnt. Die Regierung hat uns die indische Staatsbürgerschaft in Aussicht gestellt, wenn wir die Sümpfe trockenlegen und den Kanal ausbauen.«

Doch dieses Versprechen ist bis heute nicht eingelöst worden. Stattdessen schlug die Polizei alle Proteste gewaltsam nieder. Laut Gesetz kann nur eingebürgert werden, wer vor 1948 nach Indien gekommen ist. Davon profitierten zwar die zur Mittelschicht zählenden Bhadralok aus Ostpakistan, nicht aber die später eingetroffenen und ärmeren Dalit. Eine Schule und Straßen haben die Leute um Mandal selbst gebaut. Mehrmals schon sollten die Dalit aus Bidhannagar abgeschoben werden. Doch Ostpakistan, das Land, aus dem sie einst flohen, existiert nicht mehr und so sind die meisten der schätztungsweise 900 000 Menschen in den ehemaligen Camps bereits in der dritten Generation staatenlos.

Urbanisierung durch Migration

Nicht nur die postkoloniale Geschichte der 14 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner zählenden Megacity ist eine der Urbanisierung durch Migra­tion. »Die Stadt ist aus der Migration entstanden«, sagt Aditi Mukherjee. 1690 gründete die Britische Ostindien-Kompanie ihr Hauptquartier in einem Dorf am Ostufer des Flusses Hugli, ­einem Mündungsarm des Ganges-Delta. An den Flussufern hatten bereits Mus­lime, Armenier, Franzosen, Niederländer, Dänen, Griechen und Portugiesen Handelsniederlassungen errichtet. Mit finanzieller Unterstützung der armenischen Händler baute die Britische Ostindien-Kompanie 1699 das Fort William, ihre erste Festung in der Region, und legte um 1700 mehrere Dörfer zur Stadt Kalkutta zusammen. Im Gegenzug unterzeichnete sie Vereinbarungen über die kulturellen und Handelsrechte der armenischen Kaufleute.

1773 erkannte das Parlament in London das Handelsmonopol der Ost­indien-Kompanie an. Diese verlegte die Hauptstadt Bengalens nach Kalkutta. Die Hafenstadt im Ganges-Delta wurde zu einem wichtigen Umschlagplatz für Baumwolle, Jute, Porzellan, Tee und Seide, vor allem aber für den boomenden Opiumexport nach China. Der Handel mit der Britischen Ostindien-Kompanie bescherte ab Mitte des 18. Jahrhunderts auch bengalischen Kaufleuten Reichtum. Die sogenannten Babus bildeten die erste intellektuelle Elite; ihre weitläufigen Villen im italienischen Palazzo-Stil liegen im Norden der Stadt. Die Britische Ostindien-Kompanie ihrerseits brachte junge Männer aus England nach Kalkutta und bildete sie zu Beamten aus. Viele von ihnen heirateten bengalische Frauen. So entstand eine neue Gesellschaft in der Stadt, die Ingabanga (»englische Bengalis«).

1857 erhoben sich hinduistische und muslimische Soldaten gegen die britischen Befehlshaber. Um den sogenannten Sepoy-Aufstand ranken sich viele Mythen. Die eigentlichen Ursachen lagen vor allem in der Sozial- und Wirtschaftspolitik der Britischen Ostindien-Kompanie, die der Mehrheit der indischen Bevölkerung Landrechte, Arbeit und politischen Einfluss entzog. Der Aufstand wurde niedergeschlagen, aber das britische Parlament löste die Ost­indien-Kompanie 1858 auf, Britisch-Indien wurde zu einer formalen Kronkolonie mit Kalkutta als Hauptstadt.

Von einer Stadt der Migration zu einer Stadt der Zuflucht

Die Aufhebung des Handelsmonopols der Ostindien-Kompanie öffnete die Stadt für viele weitere Kaufleute und Flüchtlinge aus aller Welt. Zunächst ­kamen vertriebene Parsen, die dem zoroastrischen Glauben folgten, aus dem heutigen Iran, Geldleiher aus Kabul und jüdische Stoffhändler, insbesondere aus Bagdad. Die sogenannten Bagh­dadi Jews von Kalkutta waren politisch wie kulturell einflussreich und zählten bis zur Unabhängigkeit Indiens rund 35 000 Menschen. Weil sie ihre Zukunft im neuen indischen Nationalstaat als ungewiss ansahen, wanderten die meisten von ihnen nach England, Kanada, Australien und Israel aus. Heutzutage leben offiziell nur noch 20 Mitglieder dieser Minderheit in Kolkata, die meisten sind über 70 Jahre alt und nur noch selten kommen die zehn gläubigen Männer zusammen, die es für einen jüdischen Gottesdienst braucht. Doch es gibt noch drei gut erhaltene Syna­gogen. Die Eingänge sind zwischen Garküchen und Marktständen im quirligen Stadtteil Bara Bazaar versteckt, dem historischen Zentrum Kolkatas.

Bis heute wird das alte Zentrum der Stadt um Bara Bazaar auch »Cosmo­politan Town« genannt. Das historische Weltbürgertum Kalkuttas beschreibt der Historiker und Kulturwissenschaftler Malte Fuhrmann mit dem Begriff »Hafenkosmopolitismus«.

Dort wo später Bara Bazaar entstand, errichtete Agha Jacob Nazar 1724 die Armenische Heilige Kirche von Nazareth. Sie ist die älteste Kirche der Stadt. Die armenischen Kaufleute von Kalkutta betrieben Reedereien und Kohlebergwerke, waren im Indigo- und Schellack-Geschäft tätig und gründeten, wie auch die Baghdadi Jews, Armenhäuser und Schulen in der Stadt. Gleich auf der anderen Straßenseite der Brabourne Street, der Hauptverkehrsader von Bara Bazaar, steht die älteste ­katholische Kirche Indiens: die farbenfrohe Kathedrale des Heilige Rosenkranzes. Sie wurde 1799 von der portugiesischen Gemeinde Kalkuttas fertig­gestellt. Heutzutage hat sie noch etwa 800 Mitglieder.

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Ein kleiner Hindu-Altar im Park am Subhas-Sarovar-See

Bild:
Stefanie Kron

In Tiretta Bazaar und Tyangra im Südosten der Altstadt befinden sich die beiden China-Towns Kolkatas. Die Einwanderung aus China setzte ebenfalls im 19. Jahrhundert ein. Die gegenwärtig 2 000 Menschen zählende chinesische Gemeinde der Stadt ist für ihre Gerbereien und die Herstellung von Porzellan bekannt.


Die Verlegung der Hauptstadt Britisch-Indiens nach Neu-Delhi im Jahr 1911 läutete das Ende der Blütezeit Kalkuttas ein, wobei die Stadt nach wie vor als ­intellektuelles Zentrum Indiens gilt. Sie ist jedoch von einer Stadt der Migration zu einer der Zuflucht geworden. So überquerten im Zuge des Unabhängigkeitskriegs Bangladeshs 1971 weitere sechs Millionen Menschen die Grenze zu Westbengalen. Hinzu kommen heutzutage ungezählte Umweltflüchtlinge und Arbeitsmigranten aus Bangladesh, aus den ländlichen Regionen Westbengalens und anderen Teilen Indiens sowie Rohingya aus Myanmar. Die meisten von ihnen, insgesamt ein Drittel der Bewohner Kolkatas, leben auf besetztem Land und in Slums an den Flussufern und den Rändern der Stadt. Daran änderte auch die zwischen 1977 und 2011 in Westbengalen regierende Kommunistische Partei Indiens nur wenig.

Bis heute wird das alte Zentrum der Stadt um Bara Bazaar auch »Cosmo­politan Town« genannt. Das historische Weltbürgertum Kalkuttas beschreibt der Historiker und Kulturwissenschaftler Malte Fuhrmann mit dem Begriff »Hafenkosmopolitismus«. Hafenstädte, schreibt Fuhrmann, trügen zum Verständnis »historisch gelebter Diversität im urbanen Raum« bei. Dabei ­gelte es, weder die Herrschaft des britischen Empire zu beschönigen noch die Unterschicht oder den indischen Territorialstaat für den Verfall »maritimer Kultur« mit ihren kosmopolitischen Lebensweisen verantwortlich zu machen. Die Historiker Markus Rediker und Peter Linebaugh zeigen am Beispiel der transnationalen Dimension der ­sozialen Beziehungen und Kämpfe von Matrosen, Piraten und Hafenarbeitern sogar, dass der Kosmoplitismus keineswegs nur eine Sache von transnatio­nalen Handel treibenden Kaufleuten oder von Intellektuellen aus der Oberschicht war. Auch die proletarischen Klassen trugen das ihre zum Kosmo­politismus bei. Dieser wird sich daran messen lassen müssen, ob es gelingt, die vielen Staatenlosen und an den Rand Gedrängten zu Stadtbürgerinnen und -bürgern zu machen.