Die Geschichte des Trinkgelds ist von Land zu Land verschieden

Stimmt so

Die Geschichte des Trinkgelds verlief besonders interessant in Großbritannien und in Norwegen.

Alles begann im England der Tudors. Im 16. Jahrhundert wurde von Gästen, die in Privathäusern übernachteten, erwartet, den Dienern bei der Abreise Geld zu geben. Vails – eine alte Form des englischen Worts für Schleier – wurden diese Zahlungen genannt, die rasch auch in Restaurants üblich wurden. Gegen Ende der fünfziger Jahre des 18. Jahrhunderts begann allerdings eine regelrechte Kampagne gegen diese Praxis, wie Paul Mitchell in seinem Buch »The Making of the Modern Law of Defamation« beschreibt. Die den Dienern gezahlten Trinkgelder waren so hoch geworden, dass sie einem ­Extralohn entsprachen, und sie waren mehr oder weniger obligatorisch. Es existieren zahlreiche Berichte, dass Gäste, die die vails verweigerten, schlecht behandelt und beschimpft wurden. Arbeitgeber machten zwei Gründe geltend, warum sie keine Trinkgelder mehr zulassen wollten. Zum einen würden die aus sozialen Gründen wichtigen Besuche bei anderen Angehörigen der Oberschicht dadurch immer kostspieliger, zum anderen befürchteten sie, dass die Angestellten durch das zusätzliche Einkommen unabhängiger und damit schwerer zu kontrollieren würden.

Trinkgelder sind bis heute in Norwegen – wo Friseure übrigens niemals drikkepengene erhalten – ein höchst umstrittenes Thema. Der Hotell- og Restaurantarbeiderforbundet, die Hotel- und Gaststättengewerkschaft, ist prinzipiell gegen driks. Sie bewirkten langfristig geringere Löhne und Gehälter, weil Verhandlungen mit den Arbeitgebern schwieriger würden.

Das Thema war umstritten, in den Leserbriefspalten der Zeitungen jener Zeit lieferten sich Gegner und Befürworter leidenschaftliche Duelle, und sogar Schriftsteller wie Daniel Defoe und Jonathan Swift schalteten sich in die Debatte ein, in der es übrigens fast ausschließlich um männliche Diener und unter ihnen besonders um die ranghohen footmen ging. Das waren in Livree gekleidete Bedienstete, zu deren Aufgaben es gehörte, Gäste zu empfangen, für sie zu sorgen und bei Tisch unter anderem die Weingläser zu füllen. Einen footman zu beschäftigen, war ein Statussymbol.

Die Dienerschaft reagierte auf die Trinkgelddebatte mit Protesten. Eine der Zielscheiben ihrer Wut wurde das am 31. Oktober 1759 uraufgeführte Theaterstück »High Life below Stairs« des Dramatikers Reverend James Townley, das als »Farce in zwei Akten« drastisch die angebliche Gier der Bediensteten schilderte. Die Diener protestierten nicht immer friedlich gegen das Stück. In einem Londoner Theater wurde sogar die ihnen vorbehaltene footman’s gallery geschlossen, wo sie, statt draußen auf ihre Arbeitgeber zu warten, die Vorführungen kostenlos sehen konnten. Die Autorin Kristina Straub schließt ­allerdings nicht aus, dass die Randale dem Theaterbetreiber gelegen kam, um dieses Privileg endlich abschaffen zu können.

In Schottland kam es ebenfalls zu Tumulten, die vermutlich ein Grund dafür waren, dass am 16. Januar 1760 im Edinburgher Parlament eine Petition gegen die vails verabschiedet wurde, in der allerdings auch stand, dass die Jahresgehälter der Dienerschaft erhöht werden müssten, weil dies für die Arbeitgeber »ehrenvoller« und die Bediensteten »nutzbrigender« sei.

In London ging die Debatte hingegen weiter. In einem Leserbrief findet sich die Klage, dass »ein Mann in keinem Haus in England mehr dinieren könne, und das nicht einmal mit dem eigenen Vater oder Bruder, ohne für das Essen zu bezahlen«, also anschließend ein üppiges Trinkgeld zu geben. Besonders ungerecht sei, dass die Diener keine Unterschiede machten und von reichen Gästen genauso viel Geld erwarteten wie von armen. Allerdings gebe es auch Ausnahmen. Die wirklich vornehmen Familien wie die des Duke of Norfolk hätten die Löhne ihrer Angestellten kurzerhand um die durchschnittliche Summe der vails erhöht, während in anderen Fällen der Hausherr nicht so begütertem Besuch diskret die Summe zustecke, die dann dem Personal übergeben werden solle.

Ende 1760 waren die Zahlungen dann aber unüblich geworden, in einer Stellenanzeige aus dem Jahr 1765, in der ein footman gesucht wurde, betont der zukünftige Arbeitgeber, dass der Lohn 17 Pfund betrage und nur wenig Trinkgeld zu erwarten sei. 17 Pfund entsprachen der Summe, die ein ausgebildeter Facharbeiter damals in 242 Tagen verdiente – der jedoch von seinem Lohn im Gegensatz zum Diener Miete und Essen bezahlen musste.

Heutzutage ist das tipping, das Geben von Trinkgeld, in Großbritannien nur noch in Restaurants, Friseursalons und nach Taxifahrten üblich. Offiziell soll niemand mehr auf Extrageld an­gewiesen sein, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, weil alle Beschäftigten den Mindestlohn in Höhe von 7,83 Pfund (8,88 Euro) erhalten.

In Norwegen wurden Trinkgelder im Jahr 1924 sogar verboten. Kellner und Kellnerinnen waren bis dahin von driks abhängig gewesen, sie erhielten von ­ihren Arbeitgebern keinen Lohn, sondern nur die aus dem Deutschen übernommenen drikkepenger. Gestritten wurde allerdings zunächst über die glasspengene, ein System, in dem die Kellner in den großen Hotels und Restaurants ein Prozent ihrer Einnahmen an die Betreiber abgeben mussten. Das Wort, Glasgeld, bezog sich vorgeblich darauf, dass vom Personal zerbrochene Gläser und Teller damit bezahlt werden sollten, aber in den meisten Betrieben wurde die Abgabe auch an Krankheitstagen erhoben.

Die Arbeit der norwegischen Kellner war hart, sie dauerte von neun Uhr morgens bis ein Uhr nachts, freie Tage gab es nicht. Versuche, sich zu organisieren, hatte es bereits um 1885 gegeben, aber da Versammlungen nur außerhalb der Arbeitszeit, also mitten in der Nacht, möglich waren, waren sie nicht sonderlich erfolgreich. Der Kellner Carl Jørgensen berichtete später über seine Lehrzeit in einem Hotel gegen Ende des 19. Jahrhunderts: »Es gab eine Art Internat dort für alle, die dort angestellt waren. (…) Alles ging auf Kommando, militärisch.« Was nach außen gern als »väterliche Fürsorge« für das Personal dargestellt wurde, war oft ein Terrorsystem, vielerorts war die Prügelstrafe an der Tagesordnung. 1916 wurde das Glasgeld nach zahlreichen Streiks norwegenweit abgeschafft. Die Bezahlung der Kellner erfolgte allerdings weiterhin nur über Trinkgelder. Lehrlinge wie Carl Jørgensen erhielten überhaupt nichts, »wir hatten strengstes Verbot, drikkepenger anzunehmen«. Das änderte sich 1924, als ein Gesetz von ihnen verlangte, mit der Rechnung auch die neu geschaffene Restaurantsteuer zu kassieren. Die Kellner streikten erneut und erreichten, dass sie fortan Lohn erhielten.

Was aus dem im selben Jahr eingeführten gesetzlichen Verbot von Trinkgeldern geworden ist, ist übrigens nicht bekannt. Die norwegische Zeitung Aftenposten beschreibt es als »einfach verschwunden«. Irgendwann tauchte es einfach nicht mehr im Gesetzbuch auf, ohne dass es jemals formell außer Kraft gesetzt wurde.

1919 wurde in Norwegen der Achtstundentag eingeführt, beziehungsweise die 48-Stundenwoche, freie Tage waren immer noch nicht in jeder Berufsgruppe üblich. Für Kellner galt diese Regelung jedoch nicht, ihre Arbeitszeiten wurden erst 1934 gesetzlich geregelt.

Trinkgelder sind bis heute in Norwegen – wo Friseure übrigens niemals drikkepengene erhalten – ein höchst umstrittenes Thema. Der Hotell- og Restaurantarbeiderforbundet, die Hotel- und Gaststättengewerkschaft, ist prinzipiell gegen driks. Sie bewirkten langfristig geringere Löhne und Gehälter, weil Verhandlungen mit den Arbeitgebern schwieriger würden. Der Gewerkschafter Tore Skjelstadaune, der als Kellner arbeitete, berichtete 2013 in einem Fernsehinterview, dass die Zahl der Betriebe, die in Stellenanzeigen die Höhe der zu erwartenden Trinkgelder betonten, beständig zunehme. Das führe dazu, dass die Arbeitnehmer nicht adäquat abgesichert seien: Zwischen 50 und 120 Euro an Trinkgeldern seien zwar in Oslo als Extraeinnahmen für Kellner und Kellnerinnen üblich. Dieses Geld müsse zwar versteuert werden, werde aber nicht auf die Renten- und Arbeitsversicherung angerechnet. Es könne nicht angehen, betonte Skjelstadaune, dass sich die Praxis des 19. Jahrhunderts, in denen die Kunden über Trinkgelder die Höhe des Einkommens von Kellnern bestimmten, wieder einschleiche und die Arbeitgeber damit weitgehend finanziell entlastet würden.