Eine Kritik der vermeintlichen inhaltlichen Neuausrichtung der SPD

Es gibt kein Trauma der Anpassung

Was die SPD als die Rückkehr zu linken Idealen verkauft, ist lediglich eine neue Form der Anpassung.

Die Diskrepanz zwischen dem Niedergang der SPD und ihrem Nimbus ist groß: hier die Partei, die in 20 Jahren mehr als die Hälfte ihrer Wählerinnen und Wähler verloren hat; dort die his­torische Sozialdemokratie, der die Durchsetzung der modernen – sozialstaatlichen und partizipativen – Demokratie in Deutschland wesentlich zu verdanken ist. So groß ist die Diskrepanz, dass Kommentatoren und Politologen darin eine besondere Tragik sehen, die einerseits die Krise der Parteiendemokratie widerspiegelt und andererseits diese Krise noch verschärft. Der Niedergang der SPD geht uns alle an!

Und worin liegt er begründet? »Es ist das unverarbeitete Trauma ihrer Anpassung«, schreiben Matthias Geis und Bernd Ulrich in einem Leitartikel in der Zeit. Die SPD habe sich von 1914 bis 2004 – von der Bewilligung der Kriegskredite bis zur Einführung von Hartz IV, in Krisensituationen immer dem Druck von rechts, von oben, des Kapitals gebeugt. Sie habe damit ihre Realpolitik gerettet und sich von einer möglichen, aber unsicheren Zukunft – jener einer sozialistischen Republik – verabschiedet. In dem Moment, da diese Realpolitik aber nur noch in der Durchsetzung neoliberaler Doktrinen bestand, wie sie die Agenda 2010 formulierte, und eben nichts mehr für ihre Klientel abwarf, sondern diese nur noch mehr unter ökonomischem Druck setzte, sei die Blase geplatz.

Der Versuch, noch den Neoliberalismus bürokratisch angemessen zu verwalten, was ja der Sinn der Agenda 2010 war, konnte nicht gelingen.

So kann man die Geschichte erzählen, und so wird sie mittlerweile auch von den Sozialdemokraten selbst erzählt: Die Partei will die Agenda 2010 hinter sich lassen, sie möchte weg von den Zwangsmaßnahmen der Hartz-Reformen und hin zu positiven Instrumenten der Gesellschaftssteuerung. Grob gesagt: kein »Fördern und Fordern« mehr, sondern »Grundsicherung für alle«. Erst wenn die SPD programmatisch wieder explizit links werde, könne sie eine glaubwürdige Realpolitik vertreten. Vor ein paar Jahren wäre man noch als marxistischer Geschichtsmetaphysiker verspottet worden, wenn man die Bewilligung der Kriegskredite 1914 oder den Pakt mit den faschistischen Freikorps 1918/1919 als Ursünden der SPD und als tieferliegende Ursache für ihren Niedergang genommen bezeichnet. Wenn nun erzliberale Zeit-Redakteure zu diesen Geschichtsbildern greifen, ist durchaus Misstrauen angebracht.

Dafür, dass der Niedergang der SPD so viele umtreibt, gibt es auch einen ganz banalen Grund: Man hat im Alltag einfach ständig mit Sozialdemokraten zu tun. Ein Großteil der Verwaltung und des öffentlichen Lebens ist in sozialdemokratischer Hand. Viele Angestellte des öffentlichen Dienstes, Beamte, Pädagogen, Vertreter von Sozialverbänden und Gewerkschaften, der Mittel- und Oberbau des Rundfunks, zahlreiche Journalisten in führenden Positionen sind Sozialdemokraten. Die SPD ist die Staatspartei der Bundesrepublik. Dass die Anzahl der Regierungsjahre der CDU die der SPD auf Bundesebene bei weitem übersteigt, widerspricht dem nicht: Unterhalb der »großen Politik« hat die SPD seit Mitte der sechziger Jahre die Kommunal­politik in allen (westdeutschen) Großstädten geprägt und auch einen Großteil der Landespolitik. Mochte die CDU unter Adenauer von der formierten Gesellschaft träumen und Kohl von der geistig-moralischen Wende schwadronieren, realpolitisch war es die SPD, die die mediale, betriebliche und bürokratisch vermittelte Öffentlichkeit dominierte und dem Bildungswesen über Jahrzehnte ihren Stempel aufdrückte. Von hier aus lässt sich ein anderer Blick auf die Geschichte werfen.

Provokant gesagt: Es gibt kein Trauma der Kriegskredite. Die SPD wurde für ihre Burgfriedenspolitik reich belohnt. Diese Politik bedeutete nicht nur Unterwerfung, sie implizierte die widerwillige kaiserliche und militärische Anerkennung der SPD als Gegenmacht. Man konnte keine Politik gegen die SPD und ihre Gewerkschaften mehr machen. Den sozialdemokratischen Führern war dies bewusst und sie nutzten es aus. Das entscheidende Datum der Sozialdemokratie war dementsprechend der 6. Dezember 1916, das Inkrafttreten des »Gesetzes über den vaterländischen Hilfsdienst«, das die totale Ausrichtung der Gesellschaft auf die Kriegsziele der Obersten Heeresleitung (OHL) regelte. Es verdankte sich einer Kun­gelei von SPD, Gewerkschaften und OHL. Ab diesem Zeitpunkt war der sozial­demokratischen Führung klar, dass sie der politische Ansprechpartner von Militär und Kapital geworden war und im Fall eines Friedensschlusses den Staat »erben« würde. Die im April 1917 erfolgte Abspaltung des marxistischen Flügels, der sich hilflos-sympathisch Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands nannte, wurde billigend in Kauf genommen, denn diese tatsächlich vaterlandslosen Gesellen begaben sich aus der Sicht der SPD-Führung selbst ins Abseits des politischen Geschehens.

Deshalb kam der SPD die Revolution im November 1918 dermaßen in die Quere: Zwar dachten und fühlten die Massen treu sozialdemokratisch und forderten kaum ­etwas, das den sozialdemokratischen Horizont überstieg, aber der Form nach widersprach ihr Aufstand als Akt der Selbstermächtigung allen ordnungspolitischen Vorstellungen eines ruhigen und geregelten Übergangs in eine Republik des Ausgleichs. Die Regierung Ebert ging mit aller Gewalt gegen aufständische Arbeiter vor, bewies sich also gegenüber Militär und alter Staatsbürokratie als Ordnungshüter, schürte aber damit auch das Misstrauen der alten Mächte gegen sie. Denn immerhin blieb die SPD die große Arbeiterpartei Deutschlands – wer garantierte, dass sie zukünftig nochmal bei der Niederhaltung renitenter Arbeiter helfen würde? Der SPD gelang es während der Weimarer Jahre nicht, nachhaltig in den Staats- und Beamtenapparat einzudringen. Das klappte 50 Jahre später, erst damit hatte die sozialdemokratische Option der Ordnungspolitik die faschistische und die katholisch-restaurative der Adenauer-Zeit abgelöst.

»Das Trauma der Anpassung« scheint ein intellektueller Phantomschmerz zu sein. Was moralisierenden Kritikern der SPD als Verrat erscheint, war eine konkrete politische Option. Die SPD ergriff die Chance, einen »Volksstaat« zu gestalten, in dem alle gesellschaftlichen Klassen als gleichberechtigte Kräfte anerkannt würden und sozial den ihnen angemessenen Platz zugewiesen bekämen. Der Sozialdemokratie ging es nicht um die (Selbst-)Abschaffung des Proletariats, sondern um seine Anerkennung als Beiträger zum Fortschritt der Gesellschaft. Anpassung ist erst dann ein Problem, wenn man der SPD revolutionäre Potenzen unterstellt, die sie im Prozess der Anpassung verraten oder zumindest schnöde aufgegeben hätte. Rückblickend erweist sich das als linke Projektion.

Dramatisch ist der Niedergang der SPD allein unter diesen ordnungspolitischen Gesichtspunkten: Die Durchdringung von Bürokratie, Verwaltung und öffentlichem Leben hat gerade einmal zwei Generationen angehalten. Der Versuch, noch den Neoliberalismus – gemeint ist das Rollback eines »reinen« Kapitalismus – bürokratisch angemessen zu verwalten, was ja der Sinn der Agenda 2010 war, konnte nicht gelingen. Heutzutage ist die Schul- und Bildungspolitik in sozialdemokratisch geführten Ländern und Kommunen eine Katastrophe der Dauer­reformen, laufen dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und den großen Medienhäusern die Leser und Hörer weg, taumelt die Verwaltung hin und her zwischen gescheiterten Großprojekten wie dem wohl nie eröffnenden Berliner Flughafen und ultrademokratischen, »liquiden« Bürgerbeteiligungsverfahren, an denen aber kaum jemand teilnimmt. Das ist tatsächlich der Verfall einer bestimmten Öffentlichkeit – der sich in immer schlechteren Wahlergebnissen niederschlägt.

Diesem Verfall versucht die SPD durch die Proklamation linker Ideale etwas entgegenzusetzen. Die Zeit pflichtet ihr bei: »Die SPD müsste so radikal sein wie die Herausforderungen und so frei wie die Kräfte, die alles durcheinanderwirbeln.« Klingt nach einem Zusammenschluss mit dem Unsichtbaren Komitee. Selbstverständlich ist etwas viel Bescheideneres gemeint: ein Druckmittel in zukünftigen Koalitionsverhandlungen. Die Zeit der Anpassung ist nicht vorbei, diese sucht sich nur neue Ausdrucksmittel.