Kein anderes Land hat einen so hohen Leistungsbilanzüberschuss wie Deutschland

Der Seriensieger

Deutschland ist wieder Exportweltmeister. Auf Dauer schützt das die Bundesrepublik jedoch nicht davor, dass der globalen Akkumulation Grenzen gesetzt sind.

Das Triple ist geschafft. Wie in den beiden Vorjahren heißt der Exportweltmeister Deutschland – zumindest gemessen am Leistungsbilanzüberschuss des Jahres 2018. Das hat das Münch­ner Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung errechnet. Demnach betrug der Exportüberschuss der Bundesrepublik 294 Milliarden US-Dollar. Zwar ist er damit im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung gegenüber dem Rekordwert von 2015 von 8,9 auf 7,4 Prozent gefallen, aber auch prozentual ausgedrückt nimmt die Bundesrepublik den Spitzenplatz ein. Wie erfolgreich Deutschlands Exportmodell derzeit ist, zeigt sich unter anderem auch daran, dass der Exportüberschuss der beiden folgenden Länder, Japan und Russland, mit 173 beziehungsweise 116 Milliarden Dollar selbst zusammengezählt nicht an den des Primus heranreicht.

Anders als in den vergangenen Jahren ist der Jubel bei den Sachwaltern der Bourgeoisie in Wissenschaft, Presse und Politik diesmal allerdings weit­gehend ausgeblieben. Den meisten Zeitungen war die Nachricht kaum eine Meldung wert und Statements von führenden Politikern sucht man bislang vergebens. Selbst im konservativ-liberalen Ifo-Institut bleibt die Stimmung verhalten. Christian Grimme, der für die Berechnungen verantwortliche Ökonom, weist vor allem auf die Gefahren des sich verstetigenden Erfolgs hin: Deutschland sammele immer größere finanzielle Forderungenan  ausländische Schuldner an, so Grimme. »Dauerhaft hohe Leistungsbilanzüberschüsse können dann problematisch werden, wenn die Forderungen nicht eingelöst werden können – etwa wenn das Ausland nicht mehr fähig ist, die Zinslast zu bedienen.«

Außenhandelsbilanzen ergeben im globalen Maßstab ein Nullsummen­spiel: Die Überschüsse der einen sind letztlich die Defizite der anderen.

Es scheint, als kämen erste Zweifel an dem seit fast zwei Jahrzehnten so erfolgreichen Modell auf. Denn selbstverständlich ist der Sanierung der ei­genen Volkswirtschaft auf Kosten anderer eine Grenze gesetzt.

Außenhandelsbilanzen ergeben im globalen Maßstab ein Nullsummenspiel: Die Überschüsse der einen sind die Defizite der anderen. Und trotz der expansiven Geldpolitik verschiedener Zentralbanken, die die Verschuldung von Staaten wie auch privater Haushalte in exor­bitante Höhen zu treiben halfen, bleiben Schuldtitel letztlich Versprechen auf die zukünftige Generierung von Mehrwert, an die bei dem derzeitigen Verschuldungsniveau niemand mehr ernsthaft glauben kann. Deutschlands Politik des beggar thy neighbour, die Tendenz also, Handelspartner an den Bettelstab zu bringen, findet ihre Grenze an der schwindenden Zahlungsfähigkeit und ganz überwiegend auch fehlenden Akkumulationsperspektiven der Schuldner. In letzter Instanz werden Entwertungen von Schuldtiteln unumgänglich sein.

Ganz so weit ist es allerdings noch nicht. Noch funktioniert das deutsche Exportmodell, das wesentlich auf drei Säulen beruht. Zunächst ist der ­industrielle Sektor im Gegensatz zu dem der meisten OECD-Länder, die eine teilweise drastische Deindustria­lisierung durchlaufen haben, relativ stark geblieben. Während der Anteil des verarbeitenden Gewerbes am Bruttoinlandsprodukt hierzulande laut Statistischem Bundesamt in der vergangenen Dekade noch bei durchschnittlich 23,1 Prozent lag, war er beispielsweise in den USA, Großbritannien und Frankreich – den Ländern, gegenüber denen der deutsche Handelsbilanzüberschuss am größten ist – jeweils um etwa zehn Prozentpunkte geringer. Das schlägt sich auch in den aktuellen Zahlen nieder. 228 Milliarden Dollar an Überschuss erzielten Deutschlands Exporteure allein durch den Güter­handel, während die Dienstleistungen weit ­zurückstanden.

Die Lohnzurückhaltung in Deutschland ist mittler­weile fast sprichwörtlich, zudem gibt es hier den größten Niedriglohnsektor Europas. So ist die Lohnquote in Deutschland zuletzt auf das geringste Niveau seit 1960 gesunken, während die Gewerkschaften den sozialen Frieden garantieren. Unter diesen Bedingungen führen die weiterhin hohen Produktivitätssteigerungen, die seit der Krise ab 2007 branchenübergreifend im Schnitt fast 40 Prozent betrugen, zu immer geringeren Lohnstückkosten in der Industrie. Zudem verfügt die Bundesrepublik durch die Währungsunion mit weitaus weniger produktiven Volkswirtschaften mit dem Euro über eine permanent unterbewertete und damit export­förderliche Währung und mit dem europäischen Binnenmarkt über einen der stabilsten Absatzmärkte der Welt.

Politisch allerdings steigt der Druck auf Deutschland. Jüngst hatte die EU-Kommission nochmals darauf verwiesen, dass Exportüberschüsse von mehr als sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts »stabilitätsgefährdend« seien, und die Bundesrepublik aufgefordert, diese Marke endlich zu unterschreiten.

Auch der Protest aus den USA, die mit 455 Milliarden Dollar das mit Abstand größte Defizit aller Länder aufweisen und es allein gegenüber Deutschland auf ein Minus von fast 50 Milliarden Dollar bringen, wird immer stärker. Die von US-Präsident Donald Trump an­gedrohten Zölle auf Autos sind Ausdruck dieser Entwicklung, die vor dem Hintergrund immer geringerer Wachstumsaussichten der Weltwirtschaft, wie sie etwa im Herbst der Internationale Währungsfonds (IWF) prognostizierte, immer deutlicher die Züge eines Handelskriegs annimmt.

Solche Schutzzölle seien »nichts als die Rüstungen für den schließlichen allgemeinen Industriefeldzug, der über die Herrschaft auf dem Weltmarkt entscheiden soll«, hatte Friedrich Engels einst, die Gedanken seines Freundes Karl Marx erklärend, in einer Fußnote im dritten Band von »Das Kapital« ­geschrieben. Nötig haben diese Mittel allerdings immer nur die Nationen, ­deren Vorherrschaft sich nicht auf dem Weltmarkt selbst erweist. Wie die Briten im 19. und die USA im 20. Jahrhundert, die auf der Konferenz von Bretton Woods den Vorschlag John Maynard Keynes’ zur Gründung einer »Inter­national Clearing Union« zum Ausgleich der Handelsbilanzen brüsk zurückgewiesen hatten, ist es zurzeit die deutsche Regierung, die aktiv für den Freihandel wirbt.

Wenn auch der Protektionismus »den Keim einer weit gewaltigeren künftigen Krise in sich« trage, wie Engels an gleicher Stelle folgerte, so wird auch die schuldengetriebene Akkumulation an ihre Grenzen geraten. Denn zwar stelle sich laut Marx immer »innerhalb der kapitalistischen Produktion die Proportionalität der einzelnen Produktionszweige (…) als beständiger Prozess der Disproportionalität« dar, allerdings wiesen die Vergrößerungen ­dieser Disproportionalitäten, wie sie derzeit etwa sogar im Verhältnis zu den Außenhandelsbilanzen der Vorkrisenzeit auftreten, immer auf eine ­Verschärfung der Krisendynamik und der damit einhergehenden verschärften Konkurrenz der Einzelkapitale und Wirtschaftsstandorte hin.

Bereits 2010 hatte dies der im vergangenen Jahr verstorbene marxistische Politikwissenschaftler Elmar ­Altvater in seiner Studie »Der große Krach« gerade auch für »Sackgassen« der gegenwärtig zu erlebenden Nach­krisenpolitik prognostiziert: »Die ›strukturellen Ungleichgewichte‹ werden also in der Krise nicht beseitigt oder vermindert, sondern vergrößert. Die Reparaturmaßnahmen stopfen also möglicherweise in der einen Region ­Löcher und reißen sie in anderen Regionen umso größer auf. Die Dramaturgie der Krisenpolitik zielt auf die Zuspitzung, nicht auf die Dämpfung der ­globalen Krise.« So dürfte es irgendwann auch auf dem Siegerpodest ­ungemütlich werden.