Hans-Georg Maaßens Rolle im Fall Anis Amri bleibt dubios

Der oberste Terrorbekämpfer kehrt zurück

Hans-Georg Maaßen, der ehemalige Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, arbeitet an einer Rückkehr in die Politik. Seine Rolle im Fall Anis Amri harrt allerdings noch ihrer Aufarbeitung.

Der ehemalige Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV), Hans-Georg Maaßen, gehört offenbar zu denjenigen, die getrieben sind, den ­Ruhestand als Unruhestand zu erleben. Schon ein Vierteljahr nach seiner Versetzung in den einstweiligen Ruhestand im November nahm er die Arbeit an ­einem politischen Comeback auf. Als Plattform nutzte er einen Auftritt bei der »Werteunion«, die sich als konservativer und wirtschaftsliberaler Flügel der CDU/CSU versteht. Der Vorsitzende dieses vor allem nationalkonservativen Vereins, Alexander Mitsch, hieß Maaßen am 16. Februar wärmstens willkommen.

Dieser bedankte sich mit einem Vortrag mit dem Titel »Deutschland in Zeiten großer Herausforderungen – Warum es so nicht mehr weitergehen kann«, der sich auf folgenden Kern reduzieren lässt: Die Flüchtlingspolitik sei eine ­Katastrophe, die Migration eine Gefahr für die Sicherheit und die Union stehe viel zu loyal zur Kanzlerin. Mit anderen Worten: Merkel muss weg.

Gründe für eine Demission Maaßens hätte es angesichts des Falls Anis Amri zuhauf gegeben. Dass sie erst nach seiner politischen Intervention in Chemnitz erfolgte, ist absurd.

Die Öffentlichkeit musste nicht lange warten, bis Maaßen sich auch zu seinem Schicksalsthema Chemnitz äußerte. »Ich war derjenige, gegen den eine ›Hetzjagd‹ stattgefunden hat«, enthüllte er der FAZ in einem Interview am 11. März. Wieder einmal irrt der ehemalige Verfassungsschützer. Was er als persönlichen Angriff empfindet, nämlich eine eingehende Beschäftigung mit seiner sechsjährigen Tätigkeit im BfV in Köln, fängt gerade erst an. Sie dürfte sich, wenn überhaupt, im Untersuchungsausschuss des Bundestags zum jihadistischen Attentat auf dem Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz abspielen und hat mit Maaßens Lebenswerk zu tun. Die große ­Frage ist: Mit welcher Berechtigung gab sich der ehemalige Verfassungsschützer eigentlich die Aura des obersten Terrorbekämpfers der Republik?

Zurzeit, also im dritten Jahr nach dem Attentat auf den Weihnachtsmarkt, bei dem zwölf Menschen getötet wurden, wird nach einem »Kontakt« des Täters Anis Amri gesucht. Die anfänglich von Terrorismusexperten gestreute These, wonach der Tunesier als sogenannter einsamer Wolf ­gehandelt habe, ist restlos widerlegt. Seit längerem ist bekannt, dass Amri in Polizeiakten vor und nach seiner Tat als »Kontaktperson einer Kontaktperson« klassifiziert worden war.

Kürzlich berichtete Focus, ein enger Freund Amris, der ebenfalls aus Tunesien kommende Bilel Ben Ammar, habe dem marokkanischen Inlandsgeheimdienst DGST als Informant ­gedient. Möglicherweise sei Ben Ammar sogar während des Attentats auf dem Weihnachtsmarkt gewesen und habe Amri bei seiner Flucht geholfen. Eine Person mit seinem Aussehen habe einen Passanten, der Erste Hilfe leistete, ­niedergeschlagen und schwer verletzt, schreibt Focus unter Berufung auf Ermittlungsdokumente.

Ben Ammar wurde Anfang Januar 2017 in Berlin festgenommen. Obwohl er damals schon unter dem Verdacht stand, Mitwisser und womöglich Mittäter Amris zu sein, wurde der Haftbefehl allein wegen Sozialbetrugs ausgestellt. Am 1. Februar 2017 wurde der Mann bei Nacht und Nebel von der sächsischen Polizei nach Tunesien abgeschoben. Seither haben die deutschen Behörden keine Spur mehr von ihm. Ben Ammar, so die These des Focus, sei abgeschoben worden, um seine »Verwicklung in den Anschlag mit zwölf Toten und mehr als 60 Verletzten im Dezember 2016 zu vertuschen«.

Die Bundesanwaltschaft demen­tierte. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) ließ den Vorgang der Abschiebung untersuchen und erklärte ihn alsbald für ordnungsgemäß. Der Untersuchungs­ausschuss des Bundestags unter dem Vorsitz des CDU-Abgeordneten Armin Schuster will den Tunesier als Zeugen vernehmen. Seehofer kündigte an, deutsche Behörden würden sich bemühen, Ben Ammars Aufenthaltsort herauszufinden.

Lange vor Ben Ammar war bereits ein V-Mann in Amris Umfeld bekannt geworden. »VP-01 Murat« war vom LKA Nordrhein-Westfalen auf den salafistischen Zirkel um Abu Walaa in ­Hildesheim angesetzt worden, eine Art jihadistisches Reisebüro zur Rekrutierung von Kämpfern für den »Islamischen Staat« (IS) in Syrien. Der Agent ­beteiligte sich nach Recherchen des RBB und der Berliner Morgenpost eifrig an der Propaganda für den »heiligen Krieg« und stachelte die Männer zu Terror­taten in Deutschland an: »Komm, du hast eh keinen Pass, mach hier was, mach einen Anschlag.«

VP-01 Murat war es , der seinen Auftraggebern vom LKA einen »Anis« ­ankündigte, noch bevor die Behörden die damit gemeinte Person identifizieren konnten, weil Amri im Sommer 2015 unter falschem Namen eingereist war und anschließend 14 unterschiedliche Identitäten benutzt hatte.

Dieser Anis sei gefährlich, berichtete VP-01 Murat, er habe Kontakte nach Frankreich und Belgien, biete sich an, Waffen zu beschaffen, und sei zu allem bereit. Ebenfalls zu einem sehr frühen Zeitpunkt, im Herbst 2015, warnte ein Zimmernachbar im Flüchtlingsheim Emmerich die Hausleitung: Amri sei ein IS-Anhänger.

So wurde Amri zum Thema im Gemeinsamen Terrorismusabwehr­zentrum (GTAZ), in dem sich der Bund und die Länder zur Bekämpfung des ­islamistischen Terrorismus koordinieren. Dort blieb er als wichtiger Gefährder im Gespräch; insgesamt sieben Mal beschäftigte sich das GTAZ in nur ­einem Jahr mit seiner Person. Selbstverständlich ist auch das Bundesamt für Verfassungsschutz im GTAZ vertreten, wie auch der Bundesnachrichtendienst.

Dennoch wollte das BfV nichts mit Amri zu tun gehabt haben. Maaßen sagte im März 2017 als Leiter des Bundesamts: »Wir hatten es hier mit einem reinen Polizeifall zu tun, der in den zuständigen Bundesländern bearbeitet wurde.« Der Verfassungschutz habe über keine eigenen Erkenntnisse zu Amri verfügt und auch keine eigenen Leute auf ihn angesetzt. Wenn das wahr ist, lag die Bild-Zeitung voll daneben, als sie Maaßen noch im September 2018 zum »Mann, der uns vor Terror schützt« kürte. Er wäre dann eher der Mann, den die Tatvorbereitungen des Anis Amri nicht interessierten.

Es dürfte jedoch anders gewesen sein. Eine Angestellte des BfV berichtete dem Untersuchungsausschuss im September, sie habe persönlich ab Januar 2016 nicht nur eine Akte über Amri geführt, sondern auch mehr als zehn weitere Akten zu mutmaßlichen Islamisten angelegt, die mit Amri verkehrten. Maaßen wird seitdem von den Angehörigen der Opfer des Attentats der Lüge bezichtigt.

Gern beschwört Maaßen die »unglaubliche Herausforderung für die Sicherheitsbehörden«, die darin ­bestehe, Wirrköpfe und fanatisierte Individuen zu identifizieren, die plötzlich Kontakt zum IS aufnähmen und zu Attentätern mutierten. Doch der Verfassungsschutz hatte seit Januar 2016 Kenntnis von Amri. Damals erstellte das Bundesamt ein sogenanntes Behördenzeugnis über ihn, unterzeichnet von Maaßen. Von da an galt Amri den Behörden als hochgradiger Gefährder, sie umgaben ihn mit mehreren V-Leuten.

Der Rest des Geschehens klingt so ähnlich wie etwas, das bereits in den NSU-Untersuchungsausschüssen verhandelt wurde: Kontakte lässt man nicht auffliegen, auch Kontakte zu Kontakten nicht. »Und der Staat sah zu«, schreibt die Berliner Zeitung über Amri. Parallelen zu dem hessischen Ver­fassungsschützer, der während der ­Ermordung von Halit Yozgat durch den NSU in Kassel auch irgendwie zusah, ohne etwas zu sehen, drängen sich auf.

Ob der Freund des Attentäters, Ben Ammar, tatsächlich ein V-Mann war oder nur ein »Kontakt«, sei dahingestellt. Jedenfalls übermittelte der marokkanische Geheimdienst im September und Oktober 2016 eindringliche und sehr konkrete Warnungen vor Anis Amri an das Bundeskriminalamt und den Bundesnachrichtendienst. Die ­Bearbeitung wurde dem Bundesamt für Verfassungsschutz übertragen. Es wollte »nachfragen«, tat es aber nicht. Gründe für eine Demission Maaßens hätte es angesichts des Falls Anis Amri zuhauf gegeben. Dass sie erst nach seiner politischen Intervention in Chemnitz erfolgte, ist absurd.

Für den Untersuchungsausschuss im Bundestag zum Anschlag auf dem Breitscheidplatz ergäbe sich angesichts all der vermeintlichen oder tatsäch­lichen Versäumnisse des Verfassungsschutzes und aller weiteren Ungereimtheiten ein weites Betätigungsfeld. Allerdings hat sich sein Vorsitzender Armin Schuster Ende September während einer Aktuellen Stunde im Bundestag beim »Menschen Maaßen« für alles entschuldigt, was jenem nach seinen Aussagen zu den Geschehnissen in Chemnitz widerfahren sei. Parlamentarische Kontrolle kann also manchmal ganz schön niedlich sein.