Die Erzählung »Der Platz« von Annie Ernaux erscheint in einer Neuübersetzung

Das ausgeschlagene Erbe

Vor 35 Jahren erschien »Der Platz« von Annie Ernaux im französischen Original. Die Erzählung schildert die Lebensgeschichte von Ernaux’ Vater und ergründet die Kluft zwischen kleinbürgerlichem und intellektuellem Milieu. Bei Suhrkamp erscheint die Erzählung in einer deutschen Neuübersetzung.

In der Erzählung »Der Platz« schreibt Annie Ernaux, sie wolle »das Erbe ans Licht holen, das ich an der Schwelle zur gebildeten, bürgerlichen Welt zurücklassen musste«. Sie erinnert sich an ihre Familie, ihre Kindheit, Jugend und die Zeit des Erwachsenwerdens, bis sie selbst verheiratet ist und ein Kind hat. Es ist vor allem ihr Vater, der versucht, seinem so­zialen Schicksal als Bauer und Fabrikarbeiter zu entkommen.

Nicht politisch, sondern individuell, durch den Aufstieg ins Kleinbürgertum – als Ladenbesitzer in der Provinz. Gewerkschaftsmitglied war er nie. Politik interessiert ihn nicht. Eigentlich sind ihm die Rechten nicht besonders sympathisch, er fürchtet allerdings, die Linken könnten ihm das Geschäft wegnehmen, das er sich mühsam aufgebaut hat. Sein erklärter Wille ist es, dass seine Tochter fleißig lernt, damit sie es einmal besser hat. Ihre Bildung aber, der Besuch der höheren Schule, das Studium und schließlich der Lehrer­beruf, entfremden ihm die Tochter zugleich. Der Preis für den gesellschaftlichen Aufstieg ist der erzwungene Verrat an der Herkunft. Das sind zunächst nur kleine Gesten, wie das Ablegen des Dialekts der Normandie, der im Ruf steht, nur von Bauern gesprochen zu werden. Oder die Unmöglichkeit, mit den Eltern über Dinge zu sprechen, die nicht auf gemeinsamen Erfahrungen beruhen, Dinge aus dem Studium zum Beispiel.

Es ist kein romantischer Blick, den Annie Ernaux in ihrer Erzählung »Der Platz« auf die unteren Klassen oder das Leben in der Provinz richtet.

Nüchtern schreibt Er­naux, was es heißt, mit bescheidenen Mitteln ­einen ebenso bescheidenen Erfolg als kleiner Händler erreichen zu wollen. Es geht um all das, was sich der Vater versagen muss. Und was er, der Patriarch, auch der Familie versagen muss. Die Lebensmittel sind zum Verkauf in den Regalen aufgereiht, nicht zum eigenen Genuss. Verkaufen heißt, nicht selbst zu gebrauchen, so ist das mit Tausch- und Gebrauchswert der Waren im Kapitalismus. Die Eltern stehen Tag für Tag von morgens bis abends in dem kleinen Geschäft mit Kneipe und bedienen die Kundschaft. Die Geschäfte laufen weder besonders gut noch besonders schlecht. Ein bisschen schlechter wird es, als die ersten Supermärkte aufmachen. Der stark ausgeprägte Wunsch des Vaters, dem Milieu der Arbeiterklasse zu entfliehen, gerinnt zur Angst, dass andere, vor allem gesellschaftlich Bessergestellte, diese Herkunft sehen, hören oder spüren könnten. Die »­feinen Unterschiede« (Pierre Bourdieu) zeigen an, in welcher sozialen Welt man nicht heimisch ist – oder nicht sein soll. Ungeübt im Umgang mit Bildungsgütern führt man im Haus eben keine geistreichen oder ironischen Gespräche. Arbeit kommt vor Muße. Die Welt hat Grenzen und diese sind sozial gesetzt.

Es ist kein romantischer Blick, den Ernaux auf die unteren Klassen und das Leben in der Provinz richtet. Ihre sezierende Methode verzichtet auf Verklärung, die selbst eine Form der Herablassung ist. »Beim Schreiben«, notiert Ernaux, sei es »ein schmaler Grat zwischen der Rehabilitierung einer als unterlegen geltenden Lebensweise und dem Anprangern der Fremdbestimmung, die mit ihr einhergeht«. Es ist ein Schlüsselsatz im Buch.

In »Gesellschaft als Urteil« schreibt ihr Schriftsteller Didier Eribon, »dass die Liebeserklärungen der bürgerlichen Intellektuellen an das Volk nur eine Art seien, es dort und so sitzen zu lassen, wo und wie es gerade ist«. Er nennt das eine »traurige List des konservativen Denkens«. In der literarischen Herausforderung, weder idealisierend noch dämonisierend über die unteren ­Klassen zu schreiben, folgt Eribon Ernaux, die nicht das in falsche Kompromisse gebannte Glücksstreben, sondern den darin wirkenden sozialen Zwang denunziert. Auch Édouard Louis schließt in seinem autobiographisch geprägten Roman »Wer hat meinen Vater umgebracht« daran an.

Die Erzählung »Der Platz« wurde 1984 in Frankreich bei Gallimard veröffentlicht und mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet. Zwei Jahre später erschien unter dem Titel »Das bessere Leben« eine Übertragung ins Deutsche. Nun hat Suhrkamp eine gelungene Neuübersetzung von Sonja Finck vorgelegt. Finck hat bereits Ernaux’ »Die Jahre« und »Erinnerung eines Mädchens« ins Deutsche übertragen und arbeitet derzeit an einer weiteren Ernaux-Übersetzung, die im Herbst nächsten Jahres erscheinen soll.
Ernaux’ Erzählungen ist gemeinsam, dass sie biographische Erfahrungen im Medium der Erinnerung artikulieren. Das gerät ihr nicht zu einer Beschwörung einer vermeintlichen ursprünglichen Fülle, vielmehr ist die Erfahrung des Verlusts konstitutiv für die Erkenntnis dessen, was verloren ging. Entfremdung und Entzweiung haftet zugleich etwas Befreiendes an, wobei Ernaux auch dies nicht verklärt. Ohne Sentimentalität erkundet sie den Riss zwischen der einerseits erzwungenen und andererseits doch unmög­lichen sozialen Anpassung. Es ist zugleich die Anklage einer Gesellschaft, die zwar einer begrenzten Zahl von Menschen den Aufstieg ­ermöglicht, die Frage des individuellen Glücks aber unberücksichtigt lässt. Wer etwas aus sich machen will, muss es unter den vorgegeben Bedingungen tun.

Ernaux, die sich als »Ethnologin ihrer selbst« bezeichnet, verzichtet auf eine allzu einfache, weil undialektische Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft. Bei ihr gibt es keine ursprüngliche absolute Autonomie des Einzelnen, die von der Gesellschaft geraubt werden könnte. Im Gegenteil ist die Autonomie nur durch das Soziale vermittelt zu erreichen. So wird die Suche nach dem selbstbestimmten Glück auch eine in den eigenen Widersprüchen, die schonungslos die eigenen Kompromissbildungen aufdeckt und damit das Verhängnis der Herrschaft als durch die Subjekte vermittelte vorführt.

Eindrücklich demonstriert Ernaux dies auch in ihrem autobiographischen Roman »Erinnerung eines Mädchens«, das sich mit der sexuellen Verfügbarkeit der jungen Frau auseinandersetzt. Keine Kritik ist bei Er­naux ohne Selbstkritik zu haben, kein Glück ohne Selbstdenunziation, keine Freiheit ohne Schmerz.

Ernaux beobachtet und schreibt poetisch und präzise zugleich. Die herrschaftsförmige Logik des Sozialen, die Spaltung der Klassen, die Angst vor dem Abstieg und der Druck der Konkurrenz sind bei ihr kein literaturfremder Gegenstand. Nicht zuletzt deshalb ist »Der Platz« das Gegenteil einer verkitschten Familiengeschichte oder Heimaterzählung. Es ist die ­Beschreibung eines Unglücks, das, umso genauer es beschrieben wird, je deutlicher auf einen Zustand verweist, in dem es überwunden ist.

 

Annie Ernaux: Der Platz. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp, ­Berlin 2019, 94 Seiten, 18 Euro.