Die Freie Universität Berlin und die jüdischen Remigranten

Vergessen in Dahlem

Jüdische Remigranten, die nach Ende des Nationalsozialismus den Aufbau der Freien Universität Berlin unterstützten, aber nur allzu oft enttäuscht wurden, fanden bei den Jubiläumsfeiern der FU nur spärliche Beachtung.

Als die Freie Universität Berlin im Dezember 2018 ihr 70. Gründungsjubiläum feierte, waren die Rollen klar verteilt. Der offizielle Festakt ehrte eine Universität, die »Freiheit und Demokratie« lehre, während der Allgemeine Studierendenausschuss (AStA) pflichtgemäß die »Neoliberalisierung« der Hochschule beklagte.

Eine Gemeinsamkeit einte jedoch Universitätsleitung und Studentenschaft: Im Rahmen des Jubiläums wurde kaum an die jüdische Geschichte der Freien Universität erinnert. Es gab eine »Gegendarstellung« genannte Publikation des AStA, die das Wirken einzelner jüdischer Remigranten und Holocaustüberlebender an der Universität am Rande erwähnte. Das universitätseigene Magazin präsentierte in der Jubiläumsausgabe zumindest fundierte Kurzbiographien von Peter Szondi, ­Marianne Awerbuch und Ernst ­Fraenkel. Die jüdischen Remigranten fanden jedoch nur als Teil einer »deutschen Geschichte« Beachtung, ihre spezifischen Erfahrungen sind nicht berücksichtigt worden.

Als der spätere Berliner Bürgermeister Otto Suhr den Juristen Ernst Fraenkel bat, beim Neuaufbau der Hochschulen in Deutschland zu helfen, fiel dessen Antwort zunächst eindeutig negativ aus.

Eine genauere Auseinandersetzung mit den Biographien der Remigranten ermöglicht es hingegen, die Geschichte der Westberliner Universität aus einer neuen Perspektive zu schreiben. Die Hoffnungen und Enttäuschungen jüdischer Remigranten und Überlebender werfen ein anderes Licht auf die postnazistische Gesellschaft und die Studentenpro­teste 1968.

Als der spätere Berliner Regierende Bürgermeister Otto Suhr den Juristen Ernst Fraenkel bat, beim Neuaufbau der Hochschulen in Deutschland zu helfen, fiel dessen Antwort zunächst eindeutig aus: Für den jüdischen Wissenschaftler, der 1938 aus Berlin geflohen war, stand es außer Frage, dass er nicht in das Land der Täter zurückkehren würde. Aus dem US-amerikanischen Exil, wo 1941 »The Dual State« (»Der Doppelstaat«), seine bahnbrechende Analyse der nationalsozialistischen Herrschaft, erschienen war, schrieb er: »In dem Verhältnis zwischen Deutschland und Juden fühle ich mich, zumal nachdem 5 000 000 Juden ermordet worden sind, mit den Juden – und nur mit ihnen solidarisch.« Er wisse, dass diese Antwort bitter klinge, aber er fühle sich bitter in dieser Frage: »Ich glaube, daß diese Wunde nicht geheilt werden kann.«

Einige Jahre später entschloss sich Fraenkel, doch nach Berlin zurückzukehren. In der Hoffnung auf einen demokratischen Neubeginn begann er eine rege Lehr- und Vortragstätigkeit und wurde schließlich 1953 zum Professor für Politikwissenschaft ­ernannt. Am späteren Otto-Suhr-Institut der FU teilte sein Kollege Richard Löwenthal, der bis 1935 im Untergrund für die sozialistischen Gruppe »Neu Beginnen« gearbeitet hatte, viele seiner biographischen Erfahrungen.

Bei allem Optimismus, den neben Fraenkel und Löwenthal auch der marxistische Politologe Franz Neumann zeigte, der den Aufbau der Universität von außen unterstützte, sollte Fraenkel mit seiner anfänglichen Skepsis recht behalten: Die Vergangenheit war nicht bewältigt. Lange behielt er die US-amerikanische Staatsbürgerschaft, »das Wort wir« komme ihm in Zusammenhang mit den Deutschen nicht über die Lippen, wie er 1950 in einem Brief schrieb. Die Ereignisse von 1968 verstärkten sein Misstrauen nur: Für ihn war es unerträglich, dass linke Studierende die USA mit dem deutschen Nationalsozialismus gleichsetzten und gerade den demokratischen Staat angriffen, der ihn als jüdischen Flüchtling aufgenommen hatte. Doch nicht nur der Antiamerikanismus und Antizionismus der Achtundsechziger irritierten Fraenkel und Löwenthal. Auch der Habitus der Studierenden, die sich für die »Elite der Nation« hielten, wie es Löwen­thal ausdrückte, besorgte die beiden Professoren. Hier spielten ebenfalls ihre biographische Erfahrungen eine große Rolle: Beide hatten in der Weimarer Republik den Aufstieg des Nationalsozialismus an den Universi­täten erlebt und erinnerten sich nur allzu gut an das Auftreten völkischer Studenten. Vielen protestierenden Studierenden von 1968 erschienen diese Erfahrungen ihrer jüdischen Professoren vernachlässigenswert zu sein. Götz Aly erinnert in seinem Buch »Unser Kampf«, einer Abrechnung mit den Achtundsechzigern, an ein Flugblatt, das 1971 am Otto-Suhr-Institut kursierte. Die Forderung »Jagt die Schweine raus« wurde mit einem fetten Schwein illustriert, das Löwenthal darstellen sollte. Fraenkel war zu dieser Zeit bereits emeritiert und betrat sein ehemaliges Institut, das er für die »Sonderabteilung für unheilbar schwere Fälle« im »Tollhaus FU« hielt, nur noch selten.

Während Löwenthals und Fraenkels Blick auf die Achtundsechziger stark von ihren Erfahrungen vor der Zeit des Nationalsozialismus geprägt war, nahmen andere jüdische Dozenten an der FU die Studentenbewegung durchaus anders wahr.
Dass es den Literaturwissenschaftler Peter Szondi an die FU zog, war für diese ein Glücksfall. Der junge Germanist, der in Ungarn in einer jüdische Familie geboren worden war, wurde mit 15 Jahren im Rahmen des Kasztner-Abkommens, das die Freilassung einiger Tausend ungarischer Juden gegen die Lieferung kriegswichtiger Güter regelte, aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen befreit. Nach seiner Promotion in Zürich zur »Theorie des modernen Dramas« war er der wohl erste jüdische Wissenschaftler, der sich in der BRD habilitierte. Ein Lehrstuhl in Frankfurt blieb ihm dennoch verwehrt, nachdem er den konservativen Literaturkritiker und ­früheren SS-Oberstürmführer Hans Egon Holthusen in einem Leserbrief in der FAZ scharf attackiert und so den Unmut des Kollegiums auf sich gezogen hatte. Um Szondi, der auch von Theodor W. Adorno und Jacques Derrida geschätzt wurde, an die FU zu holen, bedurfte es einer administrativen Finte. Da er als zu unbequem galt, um ein germanistisches Seminar zu leiten, wurde ihm die Leitung des ersten deutschen Institutes für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft übertragen. Trotz akademischer Privilegien blieb Szondi in Dahlem isoliert. Als 1968 protestierende Studenten das Institut verwüsteten, mochte er ­ihrem Anliegen zwar Sympathie entgegenbringen, erkannte in ihrem brachialen Gestus aber mehr Barbarei als Befreiungswillen. Sein Freund Gershom Scholem versuchte, ihn nach Israel zu holen, doch Szondi lehnt mit der Begründung ab, dass »ich in Jerusalem vor zwei Jahren ja nicht nur empfand, dass ich dort zu Hause bin, sondern auch, dass ich das nicht ertrage«. Eine Professur an der Universität Zürich trat er nicht mehr an. Mit 42 Jahren ertränkte er sich im Oktober 1971 im Westberliner Halensee.
Der Kontakt zwischen den jüdischen Dozenten sei stark von der politischen Situation bestimmt gewesen, berichtet Gerhard Baader, emeritierter Professor für Geschichte der Medizin, im Gespräch mit der Jungle World. Baader wurde 1928 in Wien als Kind einer jüdischen Mutter geboren und musste während des ­Nationalsozialismus als »Mischling« Zwangsarbeit leisten. 1967 kam er als junger Dozent an die FU Berlin und bietet bis heute Seminare zur Geschichte der Eugenik und Medizin im Nationalsozialismus an. Stark geprägt von seinem sozialistischen ­Elternhaus und der österreichischen Sozialdemokratie der Nachkriegszeit, erlebte er die Proteste 1968 als Mitglied einer Roten Zelle. Er habe nicht nachvollziehen können, dass sich die ehemaligen Sozialisten Löwenthal und Fraenkel gegen die Studierenden stellten und bürgerliche statt linke Positionen vertraten: »Ich habe mich gefragt: ›Muss diesen Wechsel ausgerechnet ein Jude machen?‹« Bei seinen Kontakten zu ­Peter Szondi und Jacob Taubes hätten sich jedoch politische Sympathie und das Bewusstsein für eine gemeinsame jüdische Erfahrung zu einer umgekehrten Einschätzung ergänzt: »Gewissermaßen hat man sich gefreut: ›Ja, ein kritischer Mensch, und Jude ist er auch!‹« Da er sich selbst immer als Sozialist und Zionist ­verstanden habe, sei es 1968 zu Konflikten gekommen. Besonders in manchen Wohngemeinschaften sei die Situation schlimm gewesen: »Da haben jüdische Genossen oft Lehrgeld bezahlt, was nicht schön war.« Aber zentral sei das Thema nicht gewesen, die politische Arbeit in anderen Bereichen habe für Zusammenhalt gesorgt. Am Friedrich-Meinecke-Institut für Geschichtswissenschaft hingegen habe er noch lange Ressentiments gespürt. Er sei wegen seiner linken Haltung angefeindet worden, unterschwellig sei es jedoch auch um Antisemitismus ­gegangen. Seine Kollegin Marianne Awerbuch, die 1939 nach Palästina geflohen war und 1966 als Judaistin nach Berlin zurückkehrte, habe ­aufgrund ihrer Herkunft ganz offene Herabwürdigungen erlebt. Als sie nach ihrer Emeritierung weiter lehren wollte, habe sie beispielsweise, entgegen den Gepflogenheiten, eigens einen Lehrauftrag einreichen müssen – eine bewusste Demütigung.

Es gäbe noch weitere Remigranten, deren Lebenswege zu betrachten wären. Dass sich ihre Biographien weder in offzielle Erfolgsgeschichten noch in markige Widerstandsbroschüren einfügen lassen, mag erklären, wieso sie nur wenig Beachtung finden.