58. Biennale in Venedig

Guck mal, wer da liegt

Fake News, Migration, Inklusion und Rechtspopulismus: Die 58. Biennale in Venedig verspricht ungewohnte Perspektiven auf die Gegenwart. Löst sie das ein?

Mit Leitmotiven ist es so eine Sache, besonders wenn sie als Sinngeber für eine riesige internationale Kunstshow herhalten müssen. Das von Kurator Ralph Rugoff für die diesjährige 58. Kunstbiennale in Venedig gewählte Motto »May you live in interesting times« ist offen für alles, zugleich lässt es sich ausreichend mit Bedeutung füllen. Es gilt als chinesisches Sprichwort und hat irgendwie auch mit aufkommendem Faschismus zu tun. Rugoff verweist darauf, dass es 1936 der frühere britische Außenminister Sir Austen Chamberlain verwendete, um auf die ernsthafte Bedrohung Europas durch Nazideutschland aufmerksam zu machen. »Wir bewegen uns von Krise zu Krise«, warnte Chamberlain damals.

Rugoff, ein US-amerikanischer Ausstellungsmacher, der seit 2006 die Londoner Hayward Gallery leitet, sieht die Biennale aber nicht als Forum des Aktivismus gegen Rechts­populismus. Kunst ist für ihn trotz drängender politischer Fragen kein Ort, an dem es um konkrete Antworten geht. Politische Korrektheit und Aktivismus seien guter Kunst oft abträglich. Zur chinesischen Zauberformel, die den in­ternationalen Kunstbetrieb zur kreativen Auseinandersetzung mit der Gegenwart anspornen soll, fallen ihm die sorgenvollen Stichworte des Feuilletons ein: Klimawandel, der Aufstieg der Rechtspopulisten, die offenen Wunden der Migration und vor allem das schlimme In­ternet und die »alternativen Fakten« sowie die Fake News. Viel Bedeutung schwirrt in der Welt umher, im Kunstwerk habe sie allerdings eher wenig verloren: »Mir missfällt die Idee, Kunst mit dem Zwang zu belasten, etwas zu bedeuten.« Dennoch sei die Kunst in der Lage, ungewohnte Perspektiven zu bieten, Distanz zu wahren und durch Vielfalt die suggerierte Eindeutigkeit etwa von Fake News zu unterlaufen. Letztlich gebe die Kunst sogar eine Ahnung davon, »dass es gute und nützliche Unterscheidungen gibt und solche, die dem Verständnis im Wege stehen«.

Schlau erscheinende Schlagworte für den Kunstbetrieb sind das, die die wohltemperierte Inszenierung von Vielfältigkeit zum Sinn erklären und ihr doch gleichzeitig eine aufklärerische Funktion zuerkennen, weil das Selbstbild es verlangt. Derart befreit von allzu großem Ballast schlendert es sich gut über das Gelände der Biennale. Dazu gehören die Werfthallen im Arsenale genannten Hafen und die in Giardini im Sestiere Castello gelegenen nationalen Pavillons.

Einige Künstler haben den Kurator beim Wort genommen und ganz und gar auf Digitales und Fake News gesetzt. Ihre Arbeiten sind nicht gerade die stärksten der Biennale.

Christoph Büchels monumentales Flüchtlingsboot »Barca Nostra«, ­anekdotisch damit aufgeladen, dass in dem gekenterten Boot 700 bis 1 100 Menschen ertrunken sind, wurde in den Medien als »ergreifendes Symbol« zitiert. Das ist den Bildern geschuldet, die jedermann dazu im Kopf hat – ihnen wird auch nichts hinzugefügt. Ganz in der Nähe, vis-à-vis von Büchels Bootsinstallation, kann man mit Blick aufs Wasser seinen Espresso genießen und über die Flüchtlinge diskutieren. Unter den doch recht zahlreichen Arbeiten, die sich mit Migration im weiteren Sinne auseinandersetzen, ist die des in Portugal geborenen Künstlers Marco Godinho im Luxemburger Pavillon eine der subtileren. In seiner Arbeit »Written by Water« hat Godinho Hunderte von Reisetagebüchern in Wasser getaucht und die zerfledderten Hefte raumfüllend zu einer riesigen Installation aufgeschichtet. Im Video dazu liest sein Bruder am Meer aus Homers »Odyssee«, und Menschen berichten über ihre Migrationswege.

Der von der Künstlerin mit dem Kunstnamen Natascha Süder Happelmann gestaltete deutsche Pavillion wurde zu einem »Ankerzentrum« umgewidmet. Die iranisch-deutsche Installations- und Videokünstlerin, die eigentlich Natascha Sadr Haghighian heißt, errichtet darin eine von Tonkompositionen umtoste raumgroße Staumauer, wie sie in den zwanziger Jahren von einem deutschen Architekten zur Trockenlegung des Mittelmeers entworfen worden war, und gruppiert Steinbrocken und Obstkisten in einem sich nicht erschließenden Ensemble zu den Themen Migration, Zeit und Solidarität. Letztere wird zumindest in den vom Band kommenden Pfiffen deutlich, die Warnung vor der Abschieberazzia bedeuten.

Einige Künstler haben den Kurator beim Wort genommen und ganz und gar auf Digitales und Fake News gesetzt. Ihre Arbeiten sind nicht ­gerade die stärksten der Biennale. Aserbaidschan wirbt an der Vaporetto-Station mit einem großen Banner, das »Virtual Reality« verspricht. Die Fassade erweist sich jedoch als Attrappe. Folgt man der falschen Fährte, so landet man in einer Kathedrale. Die Ausstellung im »echten« aserbaidschanischen Pavillon bietet Erwartbares: Interaktive Multimedia-Installationen und Skulpturen beschäftigen sich mit der Unwahrheit der Fake News. Technisch ist das alles ganz auf der Höhe der Zeit, die Form der Erzählung »Das ist nicht wahr, weil …« fällt eher klassisch aus. Überhaupt beschleicht einen der Gedanke, dass die heutige Allgegenwart von Fake News vielleicht hauptsächlich daran liegt, dass man früher Eckkneipen mit Lesern der National-Zeitung einfach gemieden hat.
Wie man Vergangenheit und digitale Techniken noch entschlossener zueinander führt, zeigt der rumänische Pavillon. Eingangs können Besucher einem computerprogrammierten Paul Celan Fragen stellen. Doch selbst auf die Frage »Why write poetry after Holocaust?« bekommt man von dem Computermann mit den strahlend weißen Zähnen hölzerne Antworten abgespult. Ist das nun irgendwie entlarvend gedacht, eine alternative Perspektive oder ist es einfach nur Trash?

Selbst die Botschaft des anerkannten japanischen Klang- und Videokünstlers Ryoji Ikeda ist keine sehr neue. Für seine audiovisuellen Installationen »Code Verse« und »Data Verse 1, 2019« in der Hauptausstellung im Arsenale hat er digitale Daten-Sets von Institutionen wie dem Cern und der Nasa zu einem gewaltigen Flimmerrauschen zusammen­geschnitten. Die Datensätze sausen an einem vorbei und lassen einen ratlos und schwindlig zurück. Mit Tinnitus im Ohr und Flimmern in den Augen darf man sich der Apokalypse nah fühlen.

Interessanter sind da diejenigen Pavillons und Künstlerinnen, die eine eigene Perspektive auf die Gegenwart entwickelt haben haben. Während der erstmals vertretene ghanaische Pavillon zwar den Kolonialismus anprangert, sich dann aber doch nicht ganz von der »schönen Inszenierung« der Fremdheit ­lösen kann, führt die Künstlerin Voluspa Jarpa für Chile den eurozentrischen Blick auf ihre Region vor, und dies mit recht einfachen, aber eindrücklichen Mitteln. Mit einem »Hegemony Museum« und einer »Sub­altern Portraits Gallery« werden kolonialistische Darstellungsweisen formal aufgegriffen, in den Porträts mit aggressiven Farben und auflehnenden Gesten aber gebrochen. Im »Museum« sind etwa fahlweiße ­herausgeschnittene Körperteile in Plexiglas mit Beschriftung zu sehen. Diese Verdopplung bewahrt zumindest ihren verstörenden Charakter.

Fast die Hälfte der teilnehmenden Entwürfe stammt von Frauen – ein Novum in der Geschichte der Biennale. Feministische Beiträge präsentiert der argentinische Pavillon, den die Künstlerin Mariana Telleryna und die Kuratorin Florencia Battiti gestaltet haben. »El nombre de un pais« ist eine dunkle Höhle zwischen Konzeptkunst und Surrealismus, durch die die Besucher taumeln wie durch eine Hölle. Der Machismus springt einem in Form von zu Schrott gefahrenen Edelkarossen und mit Blut bespritzten Jungfrauenkleidern entgegen. Teresa Margolles plakatiert in ihrer Installation »La Busqueda« im Arsenal Vermisstenanzeigen auf Glaswände, um auf die Femini­zide in der nordmexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez aufmerksam zu machen. Die Skulpturen der queeren Künstlerin Nicole Eisenman im Arsenale gleichen putzigen männlichen Monstern, die deformiert, gewalttätig und zugleich unbeholfen wirken.

Den Goldenen Löwen für den besten nationalen Beitrag vergab die Jury in diesem Jahr an Litauen. An der Performance-Oper »Sun and Sea« lässt sich das eigentliche Missverständnis der Biennale demons­trieren: Auf einem aufgeschütteten Sandstrand liegende Leute machen das, was Touristen am Strand so machen, lesen, dösen, sich eincremen. Zudem singen sie über ihre Jobs,den Alltag, Billigflieger, Klimawandel und Artensterben. Als Zuschauer sieht man von einer Galerie auf dieses Szenario herab – und das auch im übertragenen Sinne. Angeblich geht es in der Performance, die von der Theaterdirektorin Rugile Barzdžiukaite, der Autorin Vaiva Grainyte und der Komponistin Lina Lapelyte inszeniert wurde, um den modernen Menschen – tatsächlich wohl eher um den nicht zum Kulturbetrieb gehörenden Massenmenschen, der Billigbomber und volle Sandstrände nutzt. Jedenfalls muss man die genutzten sozialen Codes schon vorsätzlich ignorieren, um nicht zu sehen, wie einfach es für die in der Touristenhochburg Venedig versammelten Kulturkritiker ist, sich implizit nicht gemeint zu fühlen. Vielfältige Kunstbeiträge und die (mögliche) Vielfalt des Kunstwerks selbst sind eben keineswegs ein ­Garant für den aufgeklärten Umgang mit Rechtspopulismus und Fake News, vor allem dann nicht, wenn die Kritikfähigkeit nicht reicht, um soziale Differenzen wahrzunehmen.