In Algerien will die Demokratiebewegung das politische System reformieren, bevor es Wahlen gibt

Erst die Reformen

Unter dem Druck der Proteste wurden die Wahlen in Algerien verschoben. Die Demokratiebewegung will zuerst das politische System reformieren, doch das Regime sträubt sich dagegen.

Es wären wohl Wahlen geworden, an denen sich kaum jemand beteiligt. Sie sollten am 4. Juli stattfinden. Wochenlang bestanden die Regierenden auf diesem Wahltermin, obwohl er immer mehr zu einer politischen Fiktion wurde. Am 1. April war Präsident Abdelaziz Bouteflika wegen der Massenproteste und Streitigkeiten innerhalb der politischen Führungsschicht zurückgetreten. Drei Monate und drei Tage später sollten die Wahlen seinen Nachfolger bestimmen. Bis dahin würde der bisherige Senatspräsident, der 77jährige Abdelkader Bensalah, ein zuvor wenig bekannter Technokrat, als Interimspräsident die Staatsgeschäfte führen. Dies erlaubt die Verfassung nur für 90 Tage, die Frist begann mit der offiziellen Ernennung Bensalahs am 9. April.

Die politischen Parteien fürchteten, dass derjenige, der als erster seine Teilnahme an der Wahl zusagen würde, in den Augen weiter Teile der Bevölkerung restlos diskreditiert wäre.

Es bestand allerdings das Problem, dass zunächst niemand bei dieser Präsidentschaftswahl kandidieren mochte. Die politischen Parteien fürchteten, dass der­jenige, der als erster seine Teilnahme an einer Wahl ohne vorherigen grundlegenden Wandel des Regimes zusagen würde, in den Augen weiter Teile der Bevölkerung restlos diskreditiert wäre. Am 25. Mai, dem letzten Tag, an dem Kandidaturen eingereicht werden konnten, tauchten dann doch noch zwei Bewerber auf: der Tierarzt und Kleinunternehmer Abdelhakim Hamadi sowie der Ingenieur Hamid Touahri. Über sie und ihre Ziele war öffentlich so gut wie nichts bekannt.

Hamadi hatte bereits zur Präsidentschaftswahl 2014 sowie zu jener antreten wollen, die für Mitte April dieses Jahres geplant war, jedoch durch die Protestbewegung gegen Bouteflikas erneute Kandidatur verhindert wurde. Die Verfassungsrichter befanden damals jedoch, dass er nicht alle Voraussetzungen für eine Kandidatur erfüllte – dazu zählen die Unterstützung durch 600 Kommunal- oder Bezirksparlamentarierinnen und -parlamentarier, die Unterschriften von 60 000 Bürgerinnen und Bürgern sowie ein Mindestalter von 40 Jahren und muslimische Religionszugehörigkeit. Touahri hatte lediglich im Jahr 2017 einmal erfolglos bei Kommunalwahlen kandidiert. Beide Bewerber galten nicht als ernstzunehmende Kandidaten.

Am 2. Juni befand das Verfassungsgericht, es sei unmöglich, die Präsidentschaftswahl am vorgesehenen Datum abzuhalten. Damit gilt sie als auf unbestimmte Zeit verschoben. Dies löst jedoch das Grundproblem nicht. Viele Oppositionelle sowie die meisten Protestierenden wollen erst die Strukturen des autoritären Systems überwinden, dann soll gewählt werden. Dieses System ist unter Druck geraten, seine Fraktionen streiten untereinander, während die Macht de facto von Generalstabschef Ahmed Gaïd Salah aus­geübt wird. Um ihre position zu sichern, wollten die Machthaber umgehend und ohne tiefgreifende Reformen wählen lassen.

Interimspräsident Bensalah appellierte am Donnerstag vergangener Woche an »die politische Klasse, die Zivilgesellschaft und patriotische Persönlichkeiten«, einen »inklusiven Dialog« zu eröffnen und »so bald wie möglich« die Präsidentschaftswahl abzuhalten. Dies wirkt auf den ersten Blick hilflos. Doch wissen Bensalah und die anderen Vertreter des Regimes, dass die Zeit für sie arbeiten dürfte. Die Proteste auf den Straßen und Plätzen blieben bislang erstaunlich stabil, doch werden sie sich auf derart hohem Niveau wohl nicht unbegrenzt aufrechterhalten lassen.

Hinzu kommt die staatliche Repression, die mal stärker, mal schwächer ausgeprägt ist. Vor dem Protestfreitag am 31. Mai wurden etwa 30 junge Menschen im historischen Stadtzentrum Algiers ohne Anlass festgenommen und auf Polizeiwachen gebracht. Trotz der Repression und auch während des Fastenmonats Ramadan, der Anfang voriger Woche endete, blieben die Proteste jedoch ungebrochen. Am 28. Mai war in einem Militärkrankenhaus in Blida der Menschenrechtler Kamel Eddine Fekhar nach einem 50tägigen Hungerstreik gestorben. Er war 2015 bereits im Zuge der teilweise von der Staatsmacht geschürten Konflikte zwischen arabischen Sunniten und berbersprachigen Mozabiten in Ghardaïa inhaftiert worden, am 31. März wurde er erneut festgenommen. Zahlreiche Menschen skandierten bei den Demonstrationen gegen das Regime seinen Namen.

Auch Louisa Hanoune, die Generalsekretärin der Arbeiterpartei (PT) – einer linksnationalistischen Organisation, die aus dem Ableger einer trotzkistischen Strömung entstanden ist –, wurde im Zuge der Korruptionsermittlungen gegen die Familie Bouteflikas in Militärhaft genommen. Tatsächlich haben sich die als Bannerträgerin sozialer Gerechtigkeit auftretende Abgeordnete und frühere Präsidentschaftskandidatin sowie der PT unter Bouteflika in dessen Umfeld integriert. Doch ist die Inhaftierung auch eine Warnung der Armee an alle zivilen politischen Kräfte. Politiker mehrerer Parteien fordern Hanounes Freilassung.

Die Kritiker des Regimes verlangen unterdessen, eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen. Sie soll das politische System grundlegend reformieren, um die Voraussetzungen für freie Wahlen zu schaffen. Wie ein solches Gremium aussehen und wer es einberufen soll, aber auch, wer während der Beratungs- und Reformperiode regieren könnte, bleibt vorerst unklar. Verschiedene Oppositionsgruppen versuchen, die Forderungen zu präzisieren. In einem am Montag in Jeune Afrique erschienenen Interview schlug etwa Mohcine Belabbas, der Vorsitzende der von Teilen der berbersprachigen Minderheit unterstützten liberalen Oppositionspartei RCD (Sammlung für Kultur und Demokratie), vor, ein dreiköpfiges Gremium, die »Hohe Übergangsinstanz«, solle die präsidentiellen Befugnisse übernehmen. Je ein Repräsentant solle von der Anwalts- und Richterschaft, der Hochschullehrerschaft und den unabhängigen Gewerkschaften gewählt werden, also von drei gut or­ganisierten gesellschaftlichen Gruppen, die in der Opposition eine bedeutende Rolle spielen. Eine »Regierung zur Rettung der Nation« soll aus Repräsentanten der Zivilgesellschaft zusammengestellt werden, zudem sind zwei Gremien zur Ausarbeitung eines neuen Wahlgesetzes und einer Verfassung vorgesehen.

Die Absage der Wahl kann als Sieg der Protestbewegung gelten, deren Anhänger am Samstag zu einer großen Konferenz zusammenkommen wollen. Aber die alte Führungsschicht dürfte schon über weitere Möglichkeiten zur Unterminierung der Demokratisierungsbestrebungen nachsinnen. Eile ist geboten, denn am 9. Juli läuft Bensalahs Amtsfrist ab.