Frauenstreik in der Schweiz

»Schluss mit gratis«

In der Schweiz haben Hunderttausende Frauen einen Tag lang die Arbeit niedergelegt, um für gerechtere Löhne und ein Ende sexistischer Gewalt zu demonstrieren. Warum der Frauenstreik nötig war, zeigt ein Blick in die Statistik.

Freitag, elf Uhr vormittags. Gerade hat ein Kinderwagenumzug die Berner Altstadt lahmgelegt. Hunderte Frauen sind gekommen, um bessere Bedingungen für die Kinderbetreuung einzufordern. »Schluss mit gratis«, heißt es auf einem der Plakate. Gratis ist freilich nicht die staatliche Kinderbetreuung – ganz im Gegenteil –, sondern die private Sorgearbeit, die Frauen leisten. Auch vor dem Bundeshaus, dem Sitz von Parlament und Regierung, ist an diesem Vormittag schon einiges los. Junge Frauen bemalen Körper und Transparente, eine Gruppe näht aus buntem Stoff eine gewaltige Decke, von der Bühne ertönt das Programm eines Alternativradios. Die Fahnen und Plakate, das Konfetti und der Glitter auf dem ­Boden, die Tücher vor den Fenstern: Der ganze Bundesplatz leuchtet lila.

In der Kinderbetreuung hinkt die Schweiz hinterher: Der Mutter­schutz beträgt gerade einmal 14 Wochen, der Vaterschaftsurlaub sogar nur einen Tag.

Plötzlich gibt es Applaus, begleitet von Trillerpfeifen, Pfannendeckelgeklapper, Rasseln und Rufen nach ègalité (Gleichheit). Der offizielle Streik beginnt. In der ganzen Schweiz sollen Frauen vorübergehend die Arbeit niederlegen. Auch viele Parlamentarierinnen schließen sich an. Angeführt von der Verteidigungsministerin Viola Amherd (Christlichdemokratische Volkspartei) und der Nationalratspräsidentin Marina Carobbio (Sozialdemokratische Partei) treten sie auf den Platz und lassen sich von der Menge feiern, die meisten Politikerinnen sind lila gekleidet, einige haben Tränen in den Augen. Dass der zweite nationale Frauenstreik in der Schweizer Geschichte besonders werden wird, ist längst klar.

In Zürich, wo am späten Nachmittag des 14. Juni weit über 100 000 Personen durch die Stadt marschieren, wird bei einer »Klitoriswanderung« selbstbestimmte Sexualität eingefordert und ein zentraler Verkehrsknotenpunkt besetzt – ganz im Zeichen des Slogans »Wenn frau will, steht alles still« des ersten Schweizer Frauenstreiks 1991. In Lausanne werden in der Bahnhofshalle feministische Lieder zum Besten gegeben. In Basel wurde schon am Abend zuvor das Frauenstreiklogo auf die Fassade des Roche-Turms projiziert, eine geballte Faust mit rot lackiertem Daumennagel.

Aktionen gab es aber nicht nur in den größeren Städten. Insgesamt sollen mehrere Hunderttausend Frauen und solidarische Männer unterwegs gewesen sein, schätzen die Gewerkschaften. Zusammen mit linken Gruppen hatten diese schon vor einem Jahr mit der Organisation des Frauenstreiks begonnen. Ausgehend von der Romandie bildeten sich in praktisch allen Kantonen lokale Streikkollektive. Mit der Zeit schlossen sich auch andere Gruppen an, darunter Vertreterinnen der Kirche, Journalistinnen und Bäuerinnenverbände. Kurz vor dem Streik schlossen sich sogar Frauen verschiedener konservativer Parteien dem Protest an. Mit der Schweizer Sektion des internationalen Verbandes »Business and Professional Women« riefen sie allerdings nur zum »Aktionstag« auf, nicht zum Streik – den »Business and Professional Women« war der Tag zu sehr von den Gewerkschaften dominiert. So verschieden die Frauen, so unterschiedlich waren auch ihre Forderungen: günstigere Kinderbetreuung und ein Ende unbezahlter Care-Arbeit, ein besseres Vorgehen gegen sexualisierte Gewalt und Gleichberechtigung beim Lohn.

Dass der Frauenstreik nötig ist, zeigt allein schon ein Blick in die Statistik: In Sachen Gleichstellung ist die Schweiz, eines der reichsten Länder der Welt, vergleichsweise rückständig. Erst seit 1971 dürfen Frauen in der Schweiz überhaupt wählen, im Kanton Appenzell-Innerrhoden erhielten sie sogar erst ­Anfang der neunziger Jahre das Stimmrecht. Bis 1988 brauchte eine Frau zudem die Erlaubnis ihres Ehemanns, um einen Arbeitsplatz anzunehmen oder ein Konto zu eröffnen. In Deutschland galt Ersteres bis 1977, Letzteres bis 1962.

Auch in der Kinderbetreuung hinkt die Schweiz hinterher: Der Mutterschutz beträgt gerade einmal 14 Wochen, der Vaterschaftsurlaub sogar nur einen Tag. Diese Woche berät das Parlament nicht zum ersten Mal darüber, letzteren auf bis zu vier Wochen zu erweitern. Dem Anliegen linker Parteien werden kaum Chancen eingeräumt. »Zu teuer«, sagen die Gegnerinnen und Gegner des Vorhabens. Zudem verdienen Frauen in der Schweiz den Gewerkschaften zufolge im Schnitt 19 Prozent weniger als Männer, was unter anderem zu einer schlechteren Altersabsicherung führt. Entsprechend hatten die Veranstalterinnen am Freitag dazu aufgerufen, um 15.24 Uhr die Arbeit niederzulegen. Aufgrund der Lohndifferenz arbeiten die Frauen rechnerisch ab dieser Zeit ohne Entlohnung, wenn man einen Normalarbeitstag zugrunde legt.

Am späten Abend, nach diesem langen Tag in Lila, sieht Zürichs Alternativquartier aus wie am 1. Mai. Junge Menschen sitzen auf dem Boden, von der Bühne auf dem Helvetiaplatz schallen altbekannte Parolen. Dennoch scheint sich am heutigen Tag etwas im Land geändert zu haben.

Der erste Frauenstreik 1991, an dem sich rund eine halbe Million Menschen beteiligte, war von den Uhrmacherinnen im Jura ausgegangen. In den folgenden Jahren wurden mehr Frauen ins Parlament gewählt und es wurde manches für die Gleichstellung getan. Ende Oktober wird in der Schweiz ein neues Parlament gewählt. Viele hoffen, dass der feministische Schwung anhält. In den vergangenen Monaten sind Netzwerke entstanden, die so schnell nicht verschwinden dürften und helfen sollten, den Forderungen auch in Zukunft Nachdruck zu verleihen.