Streit um Sterbehilfe

Das Recht aufs Gift

Ärzte dürfen Patienten sterben lassen, wenn diese nicht mehr leben wollen. Aber darf Sterbehilfe auch ein Geschäftsmodell werden?

Es ist ein Grundsatzurteil, das der Bundesgerichtshof (BGH) Anfang Juli gesprochen hat: Das oberste Gericht der Bundesrepublik Deutschland auf dem Gebiet der ordentlichen Gerichtsbarkeit hat bestätigt, dass Ärzte sich nicht zwangsläufig strafbar machen, wenn sie Menschen, die sterben wollen, nicht »retten«. In einem Fall ging es um zwei 81 und 85 Jahre alte Frauen in Hamburg, die 2012 entschieden hatten, dass sie sterben wollen.

Bei Angehörigen schwingt manchmal der Wunsch mit, sich durch den Tod des Pflegebedürftigen von einer Last zu befreien.

Ein Gutachten, das ein Sterbehilfeverein über ihr Urteils- und Entscheidungsvermögen verlang­te, erstellte ein Hamburger Neurologe. Er war auch dabei, als sie ein hochdosiert tödliches Medikament einnahmen, und leitete, auf ihren Wunsch hin, keine Rettungsmaßnahmen ein. In einem anderen Fall in Berlin hatte ein Arzt seiner 44jährigen chronisch kranken Patientin nach mehreren Suizidversuchen beim Sterben geholfen. Er verschaffte ihr Zugang zu einem Medikament und betreute sie nach der Einnahme, bis sie starb. Er entsprach ihrem Willen und versuchte nicht, sie zu retten.

Schon die Landgerichte in Berlin und Hamburg hatten die beiden Ärzte von den Vorwürfen der unterlassenen Hilfeleistung beziehungsweise der ­Tötung freigesprochen und festgestellt, dass die Frauen sich frei für ihren Tod entschieden hatten und damit die Ärzte von der Pflicht zur Rettung entbunden ­waren. Der BGH bestätigte das nun und stellte auch fest, dass die Suizide »sich jeweils als Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der sterbewilligen Frauen darstellten« und darum »Rettungsmaßnahmen entgegen deren Willen nicht geboten« waren.

Kurswechsel der Rechtssprechung

Damit hat der Bundesgerichtshof den Willen von Patientinnen und Patienten gestärkt – und seine alte, seit 35 Jahren geltende Rechtsprechung geändert. 1984 hatte das Gericht im so­genannten Peterle-Urteil noch anders entschieden und einen Arzt verurteilt, der seine Patientin, die sterben wollte und sich mit Morphium über­dosierte, in den Tod begleitet hatte, anstatt die Lebensrettung einzuleiten.

Die juristische Einordnung der Sterbe­hilfe ist kompliziert. Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes garantieren nicht nur das Recht auf Leben und Menschenwürde, sondern umfassen auch das Recht, frei und bewusst selbst zu entscheiden, das eigene Leben zu beenden, sagt das Bundesverwaltungsgericht. Die Beihilfe zur Selbsttötung, zum Beispiel das Besorgen eines in hohen Dosen tödlichen Medikamentes, ist nicht strafbar, wenn die sterbende Person eindeutig ihren Willen bekundet hat.

Auch passive Sterbehilfe, also das Unterlassen lebensrettender Maßnahmen, oder die indirekte Unterstützung, die Beendigung von Therapien, sind nicht strafbar, wenn es der Wunsch des oder der Sterbewilligen ist. Aktive Sterbehilfe, das Beenden eines Lebens durch andere Hand als die des Sterbewilligen, ist in Deutschland strafbar, auch, wenn sie auf Verlangen vollzo­gen wird. In den Benelux-Ländern und in der Schweiz ist sie legal.

Auch andere Regelungen und Urteile stärken den Patientenwillen, wenn es um den eigenen Tod geht. Seit 2009 können Menschen per Patientenverfügung festlegen, inwiefern lebensrettende oder -erhaltende Maßnahmen angewandt oder unterlassen werden sollen, wenn sie ihren Willen nicht mehr bilden oder äußern können. 2017 entschied das Bundesverwaltungsgericht, dass sich aus dem Recht auf Suizid »im ­extremen Einzelfall« auch ergibt, »dass der Staat den Zugang zu einem Betäubungsmittel nicht verwehren darf, das dem Patienten eine würdige und schmerz­lose Selbsttötung ermöglicht«.

Keine geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung

Konkret heißt das, dass das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) den Kauf eines letztlich tödlichen Betäubungsmittels schwer oder unheilbar Erkrankten erlauben muss. Aber eben nur in »extremen Einzelfällen«: Im Mai beschied das Bundesverwaltungsgericht die Klage eines nicht kranken Ehepaars negativ. Wie der Tagesspiegel berichtete, hatte das BfArM bis Februar keinen einzigen der seitdem mehr als 120 gestellten Genehmigungsanträge positiv beschieden, und zwar auf Anweisung aus dem Bundesgesundheitsministerium.

Wenn der Gesetzgeber den rechtlichen Rahmen schaffen muss, das Grundrecht auf Suizid zu verwirklichen, wie Verfassungsrichter Andreas Voßkuhle in der Verhandlung sagte, stellt sich die Frage, ob der Paragraph 217 des Strafgesetzbuchs, der die »geschäftsmäßige Förderung« der Selbsttötung seit 2015 unter Strafe stellt, mit der Verfassung vereinbar ist. Gemeint ist damit jede Hilfe beim Suizid, die kein Einzelfall, sondern auf Wiederholung angelegt ist. Straffrei bleibt, »wer selbst nicht geschäftsmäßig handelt«, Angehöriger oder Vertraute ist. Im April hat das Bundesverfassungsgericht über den Paragraphen verhandelt, nachdem Sterbehilfevereine und Palliativmediziner Verfassungsbeschwerde eingelegt hatten.

Pia Lorenz kritisiert in dem Magazin Legal Tribune Online die »mangelnde Bestimmtheit« des Gesetzes für Ärzte: »Wer ­einmal beim Suizid hilft und dabei auch nur die Absicht hat, in einem ähnlich drastisch gelagerten Fall wieder zu assistieren, könnte bereits ›geschäftsmäßig‹ handeln und sich damit nach Paragraph 217 StGB strafbar machen.« Ohne Sterbehilfevereine und ohne ­Ärzte, die keine Angst vor Strafverfolgung haben müssten, sei »ein Grundrecht auf einen selbstbestimmten Tod nur noch graue Theorie«.

»Druck zum ›Freitod‹«

Befürworter wie Gegner nehmen sehr grundsätzliche Positionen ein. Die einen wollen verhindern, dass Hilfe beim Suizid enttabuisiert und zum normalen Geschäft wird. Sie wollen erreichen, dass Sterbehilfevereine wie Dignitas keine Geschäftsgrundlage in Deutschland haben. Der Verein »Sterbe­hilfe Deutschland«, einer der Verfassungskläger, sieht dagegen ein »Recht auf Selbstbestimmung bis zum letzten Atemzug« und wertet das BGH-Urteil als »epochale Abkehr« vom seit dem Peterle-Urteil geltenden Recht.

So hoch die Selbstbestimmung zu bewerten ist – die Debatte über Sterbehilfe hat immer auch eine nützlichkeitsethische Ebene. In einer kapitalistischen Gesellschaft, in der sich der Wert eines Menschen vor allem an seiner Verwertbarkeit bemisst, und einem Gesundheitssystem unter Wirtschaftlichkeitszwang besteht die Gefahr, dass aus der Angst, zur Last zu fallen, der »Druck zum ›Freitod‹« wird, wie die Journalistin Ulrike Baureithel es formuliert. Sterbehilfe »rüttelt an einem fundamentalen gesellschaftlichen Tabu, dem Tötungsverbot«, schreibt sie in den Blättern für deutsche und inter­nationale Politik. Bei dem im ersten Moment selbstlos anmutenden Wunsch, einen schwerkranken und pflegebedürftigen Angehörigen »von seinem Leid zu erlösen«, schwingt eben auch mit, sich selbst von einer Last erlösen zu wollen.

»Beistand und Fürsorge statt Hilfe zur Selbsttötung«, forderte Rudolf Henke, der Vorsitzende des Marburger Bunds, des Berufsverbandes der angestellten Ärzte. Das wäre durchaus eine Option – wenn im Gesundheits- und Pflegesystem die Rahmenbedingungen geschaffen würden, ein würdevolles Altern und Sterben zu ermöglichen.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird für den Herbst erwartet. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Yougov sprachen sich im April 75 Prozent der Befragten für die legale passive Sterbehilfe aus, 67 Prozent für die aktive.