Die Gedächtniszeit ist vorbei

Shoah und Schablone

Die jüngste Debatte über die Vergleichbarkeit von US-Flüchtlingscamps und deutschen Konzentrationslagern zeigt: Der Konsens gegen die Relativierung des Holocaust schwindet.

Im September 1960 wurde in Paris ein aufsehenerregender Prozess eröffnet. Francis Jeanson, ein Vertrauter Jean-Paul Sartres, und einige Mitstreiter wurden angeklagt, sich gegen die politische Ordnung des Landes verschworen zu haben. Der Journalist war drei Jahre zuvor in den Untergrund gegangen, um die Algerische Befreiungsfront (FLN) zu unterstützen, die seit 1954 Krieg gegen Frankreich führte. Jeanson und seine Freunde transportierten Geld für den FLN, organisierten Unterkünfte, warben Unterstützer an. Das Gericht sah den Tatbestand des Hochverrats als erwiesen an und verhängte hohe Haftstrafen: Jeanson, der sich in die Schweiz absetzen konnte, wurde in Abwesenheit zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt.

Wo die Vergangenheit nur als Schablone benutzt wird, gehen die Besonderheiten der Gegenwart verloren.

Im Verlauf des Prozesses solidarisierten sich zahlreiche linke Intellektuelle mit den Angeklagten. Unter ihnen befand sich Pierre Vidal-Naquet. Der Historiker war 1930 in Paris als Sohn jüdischer Eltern geboren worden und hatte den Nationalsozialismus überlebt, weil er sich im Haus seiner Großmutter verstecken konnte. In seinem viel beachteten Plädoyer vor Gericht bemühte Vidal-Naquet einen abenteuerlichen Vergleich: Er setzte die französischen Internierungslager in Algerien mit dem Konzentrationslager Auschwitz gleich. Dort waren seine Eltern 1944 ermordet worden.

Vidal-Naquets Gleichsetzung war zweifellos auch der Empörung über das französische Vorgehen im Maghreb geschuldet. So war es nur schwer zu ertragen, dass das Land der Menschenrechte in seiner Peripherie ­einen brutalen Kolonialkrieg führte: In Algerien wurde exzessiv gefoltert; insgesamt sollen 200 000 Algerier interniert worden sein. Vidal-Naquets Vergleich mag vor diesem Hintergrund auch dem Zweck gedient haben, die Öffentlichkeit zu mobilisieren. Und was schien besser dafür geeignet zu sein als ein Vergleich mit den Untaten der Nazis, die als größte Verbrecher der Menschheitsgeschichte gelten?