Die Gedächtniszeit ist vorbei

Shoah und Schablone

Seite 3 – »Sauce des Allgemeinen«

Den Zeitgenossen war darum oft noch nicht einmal der Unterschied zwischen den herkömmlichen Konzentrationslagern und den Konzentrationslagern der Vernichtung, zwischen Buchenwald und Birkenau, Belsen und Belzec, bekannt. Simone de Beauvoir erklärte später exem­plarisch, dass sie und ihre Freunde zwar zahllose Berichte über die Vernichtungslager gelesen hätten. Dennoch habe sie kaum etwas gewusst. »Trotz all unserer Kenntnisse war uns das grauenhafte Geschehen fremd geblieben«, schrieb sie. Das Wissen über den Massenmord schlug nur selten in ein Begreifen seiner historischen Dimensionen um. Selbst wenn von der Vernichtung gesprochen wurde, blieb ihre Besonder­heit oft ausgespart. Sie ging, wie Hannah Arendt einmal schrieb, in der »Sauce des Allgemeinen« unter.

Dies änderte sich in den Siebzigern. In dieser Zeit begann sich der bis dahin bestimmende Dualismus von Geschichtsoptimismus und Katastrophenbewusstsein aufzulösen. Im Januar 1973 unterzeichneten die Vereinigten Staaten und Nordvietnam einen Waffenstillstand und beendeten damit den blutigsten Konflikt der Systemauseinandersetzung. Der Kalte Krieg trat in eine Entspannungsphase. Vor allem aber geriet der Glaube an den grenzenlosen Aufschwung, der das Lebensgefühl bis dahin gemeinsam mit der Bombe bestimmt hatte, in Bedrängnis. Mit der ersten Ölkrise von 1973 kam das goldene Zeitalter des Kapitalismus, das nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen hatte, an sein Ende. Der Ölpreisschock, der ganze Wirtschaftszweige lahmzulegen drohte, führte die »Grenzen des Wachstums« vor Augen, von denen der Club of Rome ein Jahr zuvor gesprochen hatte.

Damit geriet auch die universa­listische Vorstellung einer Einheit der Gattung in die Krise. Sie war aufs Engste mit dem Begriff des Fortschritts verbunden. Im Rahmen des Siegeszugs partikularistischer Ideen erhielten überkommen geglaubte Kategorien wie Herkunft, Ethnizität, Kultur neue Bedeutung. Die Begriffe Identität und Differenz wurden zu Modewörtern.