Sozialer Wohnungsbau

Es geht auch ohne Wohnungsnot

Seite 2 – Keine trockene Geschichtsstunde
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Für den konservativen Architekturkritiker Dankwart Guratzsch und seine nicht eben kleine Fangemeinde von Stadtschloss-Erbauern und ­Neofachwerkliebhabern ist der Fall klar: Sollte das wirklich passieren, dann kehrt der Sozialismus wieder, vielleicht nicht unbedingt der der SED, aber sicher jener kaum minder schreckliche, der einst auch in der Bundesrepublik vorgeherrscht hatte, als man sich noch mit Gewerkschaften, Mitbestimmung und sozialstaatlicher Gängelung herumärgern musste – und in der Konsequenz auch mit scheußlicher, »gleichmacherischer« Architektur, die zwar fließend Warmwasser zum Normalfall gemacht und die Zahl der Wohnungslosen gen null reduziert hatte, aber die Aussicht von der Terrasse so hässlich beeinträchtigte oder in Guratzsch’ Worten »Deutschlands Horizonte mit seinen Wohngebirgen besetzte«.

Der »Weiße Riese« in Kiel.

Bild:
Hamburger Architekturarchiv

Besonders schändlich erscheint ihm deshalb jeder Versuch, Geschichte und Konzepte ausgerechnet jenes »Staates im Staate«, den »das bis in den letzten Winkel der Bundes­republik verzweigte Gewerkschaftsimperium« (Welt, 8. Juli 2019) der Neuen Heimat in seinen Augen darstellt, einer Neubewertung zu unterziehen und dessen »funktionalistische, technizistische, ideologisch und politisch aufgeladene Vorstellung von einer ›neuen Gesellschaft‹ mit ›neuen Menschen‹« zu rehabilitieren.

Was Guratzsch derart ärgert, ist die Ausstellung »Die Neue Heimat (1950–1982). Eine sozialdemokratische Utopie und ihre Bauten« im Museum für Hamburgische Geschichte. Sie »wagt« es, wie Andres Lepik im Vorwort des Ausstellungs­katalogs schreibt, »die aktuelle Relevanz der Neuen Heimat einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen und damit die laufende Debatte über den Wohnungsnotstand in Deutschland mit einigen Argumenten aus der Geschichte anzureichern«.

Dabei ist es alles andere als eine trockene Geschichtsstunde, die die Schau bietet: Sie entfaltet den imaginativen Sog einer Zeitreise à la H. G. Wells, nimmt den Betrachter in eine Art von Retro-Science-Fiction hinein, dem man sich gerade deshalb nicht entziehen kann, weil man seine Kulissen aus dem eigenen Alltagsleben kennt und wiedererkennt und sich doch auf den unzähligen Fotografien (quer durch die Republik von München-Neuperlach bis zur Bremer Neuen Vahr) ein ganz anderes Leben darbietet, fast wie auf einem anderen ­Planeten. Tatsächlich stellte die Neue Heimat, die 1982 wegen der immer schwerer miteinander zu vereinbarenden Unternehmensziele Gemeinnützigkeit und Profitabilität regelrecht implodierte, nichts Geringeres als jenen anderen Planeten, also die alte Bundesrepublik dar, und zwar in ganz handgreiflicher Form.