Schikanöse Migrationspolitik in Großbritannien

Angst vor der Ausweisung

Nach dem EU-Austritt will Premierminister Boris Johnson hochqualifizierte Arbeitskräfte aus aller Welt anwerben. Doch bereits heute leben Einwanderer in Großbritannien höchst prekär.

Mit dem neuen britischen Premierminister Boris Johnson ist ein EU-Austritt ohne Abkommen, ein »harter Brexit«, wahrscheinlicher geworden. Johnsons Pläne für ein wirtschaftlich starkes, unabhängiges Großbritannien lassen sich möglicherweise sogar besser durchsetzen, wenn es kein Austrittsabkommen mit der EU gibt. Vieles deutet darauf hin, dass Johnson die britische Öffentlichkeit auf einen »harten Brexit« vorbereiten will.

Die Kosten für eine Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung stiegen in fünf Jahren von 601 Pfund Sterling pro Person auf 2.033 Pfund.

Er und seine Minister machen kräftig Werbung für den EU-Austritt als positives, gar revolutionäres Ereignis. Auch die Kontrolle der Einwanderung gehört zu Johnsons Vision eines Vereinigten Königreichs, das für hochqualifizierte Arbeitskräfte, insbesondere aus Wissenschaft und Technik, attraktiver werden soll.

Im britischen Unterhaus und in der Konservativen Partei gibt es viele Kri­tiker, die Johnsons Plan, mit allen Mitteln am 31. Oktober den Ausstieg zu ­erreichen, für undemokratisch und ökonomisch höchst zweifelhaft halten. ­Einigkeit besteht in der Partei allerdings darüber, dass die Einwanderung stärker reglementiert werden müsse. Die zurückgetretene Premierministerin Theresa May etwa wollte eine Höchstgrenze für Einwanderung aus der EU festlegen.

Die Kontrolle der Immigration aus der EU ist eine wesentliche Motivation der EU-Austrittsbefürworter. Die Freizügigkeit für EU-Bürger, unabhängig von finanzieller Lage und Ausbildungsniveau, war ihnen immer ein Dorn im Auge. Sie ermögliche die »Ausbeutung« der britischen Bevölkerung, da unqualifizierte Arbeitskräfte möglicherweise keine Steuern zahlten und das überstrapazierte öffentliche Gesundheitssystem zusätzlich belasteten. Ein verbreitetes Vorurteil sieht Ost­europäer als Wirtschaftsflüchtlinge, die den Briten auf der Tasche liegen und gesellschaftliche Probleme verursachen. Die Kampagne für den EU-Austritt war auch deswegen erfolgreich, weil sie diese Ressentiments bediente.

Kostspielig und prekär

Johnson hat zwar noch keine konkreten Pläne vorgelegt, aber es ist bekannt, dass er ein Punktesystem ähnlich wie in Australien bevorzugt, um Einwanderer zu bewerten und über ihr Bleiberecht zu entscheiden. Ein ähnliches System gibt es in Großbritannien bereits für Einwanderer aus Nicht-EU-Staaten, Johnson will es nach dem EU-Austritt aber auf alle Immigranten ausweiten. Der ehemalige Außenminister und konservative Politiker William Hague forderte Johnson kürzlich auf, diese Ideen in die Tat umzusetzen. Seine Vorschläge beinhalten außerdem verschärfte Grenzkontrollen. Unqualifizierten Arbeitskräften jeder Herkunft sollten nach Hagues Meinung nur zeitlich begrenzte Visa zugeteilt werden.

Von Einwanderern verlangt Johnson, die englische Sprache zu lernen und sich in die britische Gesellschaft zu integrieren. »Ich will, dass jeder, der hierher kommt und hier sein Leben bestreitet, sich britisch fühlt und ist«, sagte der Premierminister vor seiner Wahl. Die talentiertesten Einwanderer würden mit »offenen Armen« empfangen. Das ­bestehende System für Migranten aus Nicht-EU-Staaten bewirkt aber genau das Gegenteil. Für diese Menschen ist der gesicherte Aufenthalt in Großbritannien kostspielig und prekär, und zwar auch dann, wenn sie hochqualifiziert sind. Dies gilt auch für Menschen, die bereits seit Jahrzehnten in Großbritannien leben, etwa schon als Kind einwanderten, und sich »britisch fühlen«.

Obwohl sie britische Schulen und Universitäten besuchen und das Vereinigte Königreich als ihr Zuhause betrachten, gelten sie in den Augen des Innenministeriums nicht als integriert. Ihren Bemühungen um die britische Staatsbürgerschaft wird im Gegenteil mit Schikanen und bürokratischen Hürden begegnet: Zehn Jahre lang müssen sie alle 30 Monate ihre begrenzte Aufenthaltsberechtigung erneuern, dafür jedes Mal komplexe Formulare ausfüllen und mehrere Tausend britische Pfund bezahlen.

Angst vor Ausweisung

Wie die Organisation »Let Us Learn« Ende Juli berichtete, bedeutet dies für viele Betroffene die ständige Angst, den Betrag nicht aufbringen zu können oder das Formular nicht richtig auszufüllen und damit ihren Aufenthaltsstatus zu verlieren und möglicherweise ausgewiesen zu werden – wie es einigen bereits passiert ist. Die Kosten für die Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung sind in fünf Jahren um 238 Prozent gestiegen, von 601 Pfund pro Person im Jahr 2014 auf 2.033 Pfund (umgerechnet 2.194 Euro) im Januar 2019. Ein Studium bleibt für viele unerreichbar, da sie sich die Studiengebühren nicht leisten können und als Ausländer keinen Studienkredit erhalten.

Einwanderer, die zehn Jahre ununterbrochen einen begrenzten Aufenthaltsstatus halten, bekommen einen »unbegrenzten« Aufenthaltsstatus, der nach einem weiteren Jahr den Antrag auf die britische Staatsbürgerschaft erlaubt. Dafür muss aber ein Einbürgerungstest bestanden werden, der selbst für gebürtige Britinnen und Briten schwer sein dürfte. Gefragt wird etwa, welcher Stammesführer einst die ­Römer bekämpfte oder woraus Halloween-Laternen hergestellt werden. Der Test kann mehrfach abgelegt werden, kostet aber jedes Mal Gebühren.

Es reicht offenbar nicht, dass die Einbürgerungswilligen gut ausgebildet sind oder ein Studium anstreben, Steuern zahlen und die englische Sprache wie Muttersprachler beherrschen. Sie sind genau die vorbildlichen Einwanderer, die Johnson ins Land locken will. Nichts deutet darauf hin, dass Großbritannien sich nach dem Austritt aus der EU plötzlich als Einwanderungsland begreifen wird.