Essay - Identitätspolitik und Universalismus

Die Erfindung der Weißen

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Der Begriff »Identitätspolitik« wurde 1977 vom US-amerikanischen Combahee River Collective, einer Gruppe radikaler schwarzer Lesben, in ihrem »Black Feminist Statement« geprägt. Die radikalste Politik, argumentierten sie, komme dadurch zustande, dass man die eigenen Erfahrungen in den Mittelpunkt der Kämpfe stelle. »Der Fokus auf unsere eigene Unterdrückung«, schrieben sie, »ist im Konzept der Identitätspolitik verkörpert.«

Für das Combahee River Collective war – wie für viele innerhalb solcher Identitätsbewegungen in den sechziger und siebziger Jahren – ihr eigener Kampf untrennbar Teil von breiteren Kampagnen für Veränderungen. Die Identitätspolitik jener Zeit war ein Mittel, die eigene Unterdrückung zu bekämpfen und zugleich die Ignoranz eines Großteils der Linken gegenüber dieser Unterdrückung im Rahmen eines umfassenderen Kampfs für soziale Veränderung zu kritisieren.

Eine entscheidende Veränderung in den vergangenen 50 Jahren ist der Zerfall dieser breiteren sozialen Bewegungen und radikalen Kämpfe. Die Organisationen der Arbeiterbewegung sind inzwischen geschwächt, die neuen sozialen Bewegungen sind ebenso wie die Linke selbst zerfallen. Im selben Maße, wie die alten sozialen Bewegungen und radikalen Kämpfe an Einfluss verloren, war die Anerkennung der Identität nicht mehr Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck. Die Philosophin Wendy Brown sagte: »Was wir Identitätspolitik nennen, resultiert zum Teil aus dem Untergang einer Kritik am Kapitalismus.«

Durch diese Entwicklung änderte sich die Bedeutung von Zugehörigkeit und Solidarität. Politisch gesehen hat sich das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder einem Kollektiv in zwei historischen Haupt­formen ausgedrückt: als Identitätspolitik oder als solidarische Politik.

Erstere betont die Bindung an gemeinsame Identitäten, die auf Kategorien wie Rasse, Nation, Geschlecht oder Kultur gründen. Der Unterschied zwischen linken und rechten Formen der Identitätspolitik ergibt sich zum Teil aus den Identitätskategorien, die man jeweils für besonders wichtig hält. Die Politik der Solidarität vereint Menschen in einem Kollektiv – nicht wegen einer bestimmten Identität, sondern durch ein politisches oder soziales Ziel.

Wo die Politik der Identität Menschen trennt, findet die Politik der Solidarität einen kollektiven Zweck über die ethnische und geschlechtsspezifische Differenz, Sexualität oder Religion, Kultur oder Nation hinweg. Aber es ist die Politik der Solidarität, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten mit dem Rückgang radikaler Bewegungen verebbt ist. Vielen erscheint daher die einzige noch mögliche Form kollektiver Politik eine, die in der Identität begründet ist. »Solidarität« wird daher mehr und mehr nicht mehr nur in politischen Begriffen definiert – als kollektives Handeln zur Verfolgung bestimmter politischer Ziele –, sondern unter dem Gesichtspunkt der Ethnizität oder Kultur.

Die Frage, die sich die Menschen stellen, ist nicht so sehr: »In welcher Art von Gesellschaft will ich leben?«, sondern vielmehr: »Wer sind wir?« Die beiden Fragen sind natürlich eng miteinander verwoben, und jede Vorstellung von sozialer Identität muss eine Antwort auf beide beinhalten. Doch mit der Einengung der politischen Sphäre und der Erosion der Mechanismen politischen Wandels ist die Antwort auf die Frage »In welcher Art von Gesellschaft will ich leben« weniger von den Werten oder Institutionen geprägt, für deren Etablierung die Menschen kämpfen wollen, als von der Art von Menschen, für die sie sich halten. Und die Antwort auf »Wer sind wir?« ist weniger durch die Form der Gesellschaft definiert, die es zu schaffen gilt, als durch die Geschichte und das kulturelle Erbe, zu dem man angeblich gehört. Die Bezugssysteme, mit denen Menschen die Welt begreifen, definieren sich heutzutage weniger als »liberal« oder »konservativ« oder »sozialistisch«, sondern vielmehr als »mus­limisch«, »weiß«, »englisch« oder »europäisch«.