Essay - Identitätspolitik und Universalismus

Die Erfindung der Weißen

Seite 9

Diese Fragen wurden von den identitären Bewegungen der Rechten aufgegriffen. Solche Bewegungen verbinden oft eine reaktionäre Identitätspolitik, die in der Feindseligkeit gegen Migranten und Muslimen begründet ist, mit einer Wirtschafts- und Sozialpolitik, die früher Grundbestandteil linker Politik war: Verteidigung von Arbeitsplätzen, Sicherung des Sozialstaats, Widerstand gegen Sparpolitik. Das Ergebnis ist eine neue Art von Massenpolitik und die Neugestaltung einer ursprünglichen reaktionären Identitätspolitik für ein neues Zeitalter.

Durch die Normalisierung der »weißen Identität« hat der Rassismus eine neue Legitimität erlangt. Die reaktionäre Politik der weißen Identität kann die Interessen der Arbeiterklasse – ob diese nun weiß ist oder nicht – genauso wenig verteidigen wie die angeblich radikale Politik der Identität die Interessen von Minderheiten. Beide transformieren die Solidarität von einem Zusammengehörigkeitsgefühl mit denen, die dieselben Werte und Anliegen teilen, wenn auch nicht unbedingt die eigene Hautfarbe oder Kultur, zu einer Einheit mit denen, die die eigenen politischen Hoffnungen nicht teilen und den eigenen politische Interessen entgegenstehen können, aber deren Hautfarbe oder kultureller Hintergrund ähnlich ist. Es gibt keinen einzigen Katalog von ­Interessen, der von allen Weißen geteilt wird. Die Verantwortlichen für die Marginalisierung der Arbeiterklasse sind ebenfalls weitgehend weiß – Politiker, Bürokraten, Bankiers, Firmenchefs. Der Begriff der »weißen Identität« verschleiert die realen Probleme der Arbeiterklasse und ­erschwert es, sie zu bekämpfen.

Weiße Identität ist also die ursprüngliche Identität der Identitätspolitik und offenbart die reaktionären Ursprünge von Identitätspolitik. Um Ungleichheit und Ungerechtigkeit in Frage zu stellen, um die Interessen der Arbeiterklasse zu vertei­digen, muss man daher immer auch Identitätspolitik radikal in Frage stellen, wie auch immer sie sich ausdrückt.

Der Text basiert auf einem Vortrag, den der Autor am 5. März 2019 im Literarischen Colloqium Berlin hielt. Der Text wurde aus dem Englischen übersetzt und ­redaktionell leicht bearbeitet. Übersetzung: Carl Melchers